Weinberg, Mieczyslaw

Complete Piano Works, Volume 1-3

Verlag/Label: GrandPiano GP 603/607/610
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/02 , Seite 83

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 4

Während die großen Tonkünstler seiner Generation in der UdSSR die kompositorische Meisterschaft Miec­zyslaw Weinbergs alsbald erkannten, bemerkte ihn die übrige Welt erst eigentlich nach seinem Tod im Jahre 1996. Wesentlichen Anteil an der wachsenden Reputation des polnisch-jüdischen Emi­granten hat der englische Musikforscher und Pianist David Fanning, der Weinbergs Leben und Schaffen 2010 erstmals umfassend dokumentierte («Auf der Suche nach Freiheit», Wolke, vgl. NZfM 1/2011, S. 93).
1919 in Warschau geboren, begann Weinberg als Klavierspieler am jüdischen Theater der Stadt, dessen Ensemble der Vater leitete. 1939 flüchtete er ins weißrussische Minsk, wo ihn ein ehemaliger Schüler Rimski-Korsakows in seine Kompositionsklasse aufnahm. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion floh er weiter bis ins usbekische Taschkent. 1943 ebnete ihm Schostakowitsch den Weg nach Moskau.
Obwohl sich Weinberg – einziger Überlebender seiner Warschauer Familie – seinem rettenden Gastland gegenüber loyal verhielt, ließ ihn der sowjetische Geheimdienst mitnichten unbehelligt. Auf dem Höhepunkt der Kampagne gegen die «Kreml-Ärzte», die Stalin angeblich nach dem Leben trachteten, geriet er 1953 sogar in Haft. Mit dem Tod des Diktators fand das unwürdige Treiben ein Ende.
Es bedurfte wahrlich eines standhaften Charakters und einer unversiegbaren künstlerischen Erfindungskraft, um allen Widrigkeiten standzuhalten, sich treu zu bleiben und ein Lebenswerk zu schaffen, das an Fülle und Vielfalt dem seines Mentors Schostakowitsch gleicht. Wobei Weinberg schöpferischen Abstand zu halten verstand von der Tonwelt des Freundes, wiewohl Anklänge manchmal kaum zu überhören sind.
Im Übrigen spricht es für die Lauterkeit des Polen, dass er sich zu Glasnost-Zeiten und nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht als Opfer hinstellte. Vielmehr erwies er sich den Künstlern dankbar, die sich früh seiner Tonkunst angenommen hatten: David Oistrach und Leonid Kogan, Mstislaw Rostropowitsch, Emil Gilels, das Borodin Quartett, die Dirigenten Kondraschin und Fedossejew.
All das weiß niemand besser als David Fanning, der in Moskau Quellenforschung betrieb. Bemüht, die Schatten zu zerteilen, die Schostakowitsch und die nachfolgende Generation westwärts gezogener Russen wie Alfred Schnittke, Edison Denissow oder Sofia Gubaidulina auf Weinbergs Schaffen werfen, gewann er mehrere Festivals für dessen Musik. Namhafte Interpreten fingen Feuer, so die Mün­chner Solobratscherin Rebecca Adler (vgl. NEOS Music CD 11008/9) und die amerikanische Pianistin Allison Brewster Franzetti. In drei etwa einstündige Recitals aufgeteilt, spielt sie das vollständige Klavierwerk Weinbergs, das vorwiegend in dessen frühe und mittlere Schaffensperiode fällt. Ihre imponierende Gesamtaufnahme, die 2009 und 2010 an der Kean University Hillside (New Jersey) entstand und überwiegend Ersteinspielungen enthält, ist ein Meilenstein der Weinberg-Rezeption und ein bedeutsamer Schritt auf dem mühsamen Weg, seine Musik ins Bewusstsein des so genannten Klassik-Hörers zu schleusen. Hält ihr passioniertes und zugleich hochsensibles Klavierspiel doch Vergleiche mit den ganz Großen der Zunft aus – man denke an Perahia, Aimard oder Uchida.
Wozu David Fanning als Ratgeber sein Scherflein beitrug. Mit seinen aspektreichen Beihefttexten erweist er sich jedenfalls als hilfreicher Fremdenführer. Der virtuelle Atelierbesuch beginnt mit einer vielversprechenden Talentprobe des kaum 15-Jährigen: zwei «Mazurken», deren Manuskripte er seinem ersten Lehrer widmete. Als Opus 1 zählte Weinberg ein «Wiegenlied» von 1935: Kinderszene eines der Kindheit Entwachsenen. Als Konservatoriumsschüler in Minsk schrieb Weinberg 1940 seine erste Klaviersonate op. 5 in vier Sätzen. Sie schreckt vor schroffen Wendungen ebenso wenig zurück wie vor fingertechnischen Zumutungen. Ob Anklänge an Schostakowitsch (Scherzo) und Prokofjew (Tarantella-Finale) bewusst oder eher zufällig sind, ist kaum zu entscheiden. Die 1942 in Taschkent komponierte, gleichfalls vierteilige Klaviersonate op. 8 in a-Moll – etüdenartiges perpetuum mobile, Walzer-Scherzo, liedhaftes Adagio, Rondo-Finale im Charakter einer Gigue – gefiel dem Pianisten Emil Gilels so gut, dass er sie 1943 im Moskauer Konservatorium uraufführte.
Unter dem Zwang der Schdanow-Doktrin, die den sowjetischen Komponisten auferlegte, volkslied- oder volkstanznahe, einfach geformte Musik zu schreiben, entstand 1950/51 eine Sonatine op. 49 für Klavier, die Weinberg ein Vierteljahrhundert später umschrieb. Die Revision betrifft nicht nur den wesentlich erweiterten Finalsatz, sondern auch das «Andantino», das an die Stelle des «Adagietto lugubre» trat. Allison Franzetti dokumentiert sowohl die geraffte Urgestalt als auch die ausgereiftere Zweitfassung als Sonatine op. 49 BIS.
Emil Gilels gewidmet ist die klassisch ausgewuchtete 4. Klaviersonate in h-Moll op. 56 in vier Sätzen von 1955, in denen Fanning die «Extravaganz» der mittleren Prokofjew-Sonaten wiederzuerkennen glaubt. Vorauf ging eine unveröffentlichte Partita op. 54 aus Stalins Sterbejahr 1953, das Weinberg ins Gefängnis brachte. Die ersten fünf Sätze und die Aria klingen gelassen und in sich gekehrt – Marsch, Ostinato und finaler Kanon hingegen dramatisch-virtuos, von Unruhe getrieben. Die Etüde, an vorletzter Stelle, weckt Erinnerungen ans Finale der zweiten Chopin-Sonate («Sturmwind über den Gräbern»).
Den vergnüglichen Abschluss der Edition bilden die drei «Hefte für Kinder» op. 16, 19 und 23 sowie 21 «Leichte Stücke» op. 34: Zyklen von Charakterstücken, die – wie ihre Vorgänger bei Schumann, Debussy oder Bartók – eher als Verteidigung der Kindheit zu lesen sind.

Lutz Lesle