Xenakis, Iannis

Complete Works for Cello

Verlag/Label: æon AECD1109
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/05 , Seite 85

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Nomos Alpha gilt als eines der Hauptwerke von Iannis Xenakis: eine Komposition, die Cellisten in besonderer Weise Gelegenheit gibt, ihr Können zu beweisen, da sie alle erdenklichen Klän­ge und Spieltechniken – Pizzicato, col legno, Glissando, Tremolo, Flageolett, Schwebungen, Doppelgriffe, Dreiklänge und andere – permutiert nach den mathematischen Regeln der Gruppentheorie durchspielt. Arne Deforce betont nicht die dynamischen Extreme, er spielt sauber und diszipliniert: eine gegenüber anderen Interpretationen anhörenswerte Variante. Nomos Alpha steht als größter, 19-minütiger Block am Beginn der CD. Sieben weitere, kürzere Stücke, zumeist Duos, ein Solo und eines für Ensemble, bieten einen Überblick über 45 Jahre des Komponierens.
In Rumänien geboren, in Paris zuhause, berief sich Xenakis gern auf seine griechische Herkunft. Charisma, geschrieben 1971 in Erinnerung an den früh verstorbenen Komponisten Jean-Pierre Guézec, spielt an auf den Tod des Patroklos in der Ilias – mit erweiterten Spieltechniken für Cello und Klarinette. Kottos heißt auch einer von drei mythischen Riesen – das zweite Cello-Solostück von Xenakis ist weit weniger als Nomos Alpha ein systematischer Katalog von Spieltechniken. Vielmehr arbeitet der Cellist nur mit dem Bogen, zieht dabei aber alle Register: vom harsch angestrichenen Anfang über flüchtig hingetuschte hohe Glissandi, rhythmische Passagen und Harmonien bis hin zum furiosen Tremolo, dem am Ende noch eine zarte Reprise folgt. In dem zehnminütigen Werk gelingt es Deforce überzeugend, mit der Partitur und dem Bild des hundertarmigen, wild um sich schlagenden Riesen eins zu werden.
Das Ensemblestück Épicycles stellt zunächst eine modale Cellomelodie schweren Klangflächen von zwölf Instrumenten gegenüber. Gelegentlich antworten Oboe und Horn. Nachdem vorerst Ensemble-Cluster überwiegen, lässt sich das Cello plötzlich mit einer schlichten pentatonischen Figur vernehmen, aus der es sich jedoch nach und nach freispielt. Keine extremen Spieltechniken: schlichte Achtelnoten, mal aleatorisch, mal fast barock verspielt, kontrastiert mit den schillernden Klangwolken des zwölfstimmigen Ensembles.
Paille in the wind – mittlerweile sind wir im Jahr 1992 angekommen – kontrastiert zehntönige Klaviercluster mit schwer angestrichenen Sekundgriffen auf dem Cello. Hunem-Iduhey und Roscobeck sind wiederum zwei Duos für Streicher, ursprünglich geschrieben als Hommage an Yehudi Menuhin sowie für Stefano Scodanibbio und Rohan de Saram. Violine und Cello – oder Cello und Kontrabass – sind eins und produzieren düstere, raue Klangwelten, abermals aufgebaut aus Sekund- und Septintervallen.
Die Überraschung kommt zum Schluss: Das Frühwerk Dhipli Zyla von 1951 bewegt sich im Rhythmus eines griechischen Volkstanzes und musikalisch zwischen Bartók und Strawinsky, zeigt aber durchaus schon die hohe Musikalität, kompositorische Meisterschaft und zumindest im Keim die klangliche Vielfalt der späteren Werke Xenakis’.

Dietrich Heißenbüttel