Lutoslawski, Witold

Complete Works for Piano Solo

Sonate (1934) | Zwei Etüden (1941) | 12 Volksmelodien (1945) | Bukoliki (1952) | Drei Stücke für die Jugend (1953) | Invention (1968)

Verlag/Label: Sony 888837784320
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/02 , Seite 86

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 3

Der polnische Komponist Witold Lutoslawski (1913–94) war zwar auch ein ausgebildeter Pianist und trat in seiner Jugend öffentlich auf, doch nehmen Klavierwerke in seinem Œuvre nur eine marginale Position ein. Dennoch ist es als Ergänzung des Bildes von diesem Komponisten wertvoll, dass die zur Zeit an der Musikhochschule Hannover wirkende Pianistin Ewa Kupiec dessen Soloklavierwerke nun komplett eingespielt hat.
Darunter ist auch eine fast halbstündige Sonate des 21-Jährigen, die offenbar erst im Nachlass aufgefunden wurde, denn der entsprechende, 1997 erschienene Band der polnischen Encyklopedia muzyczna nennt dieses Werk nicht. Neben den Orchestervariationen (1938) ist dies das einzige vollständig erhaltene Werk der Vorkriegszeit. Es zeigt einen starken französischen Einfluss, vor allem von Maurice Ravel, aber auch von Polens Altmeister der Moderne Karol Szymanowski, ist formal anspruchsvoll durchgearbeitet und trotz einiger technisch schwieriger Stellen nicht im vordergründigen Sinne virtuos oder auftrumpfend – im Gegenteil.
Die Volksmelodien, die Drei Stücke für die Jugend und die Bukoliki [Bukolische Stücke] sind einfache, für jugendliche Bedürfnisse geschriebene Werke in der Art von Béla Bartóks Zyklus Für Kinder – für Lutoslawski sogar eine günstige Gelegenheit, denn sein «Folklorismus» bewahrte ihn vor weitergehenden politästhetischen Forderungen. Die spätere Invention verrät von der begrenzten Aleatorik der 1960er Jahre praktisch nichts. Wir haben es hier also durchweg mit Werken zu tun, die vor der Zeit liegen, die uns heute als die wesentliche für diesen Komponisten erscheint. Nähere Betrachtung kann gleichwohl subkutane Verbindungslinien des Klanggespürs aufweisen, und das macht die Edition interessant.
Ewa Kupiec bietet eine technisch makellose, sehr präsent aufgezeichnete Wiedergabe, vielleicht mit einer Spur zu viel Hall. Der Booklettext ist kundig, doch wäre es für deutsche und englische Benutzer sinnvoll gewesen, polnische Titel zu übersetzen – denn woher sollte man wissen, dass gas?ior Ganter (bzw. Gänserich) und czte­ropalcówka Vierfingerstück bedeuten?

Hartmut Lück