Ustwolskaja, Galina

Composition No. 2 «Dies irae» | Sonata No. 6 | Grand Duet

Verlag/Label: Wergo WER 67392
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/01 , Seite 82

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 5

Galina Ustwolskaja hat zweifelsohne eine der unvergleichlichsten Personalstile der neuen Musik hinterlassen. Dabei ist die 2006 verstorbene Russin nicht gerade verschwenderisch mit ihren kompositorischen Kapazitäten umgegangen: circa sechs bis sieben Stunden Musik, die sich auf annähernd 25 autorisierte Werke verteilen. Das Wenige, das die öffentlichkeitsscheue Komponistin hinterlassen hat, wiegt dafür umso schwerer.
Dass Ustwolskajas Musik einen existenziellen Extremzustand darstellt, der fern jeder Formkonventionen (auch denen der neuen Musik) angesiedelt ist, könnte nicht deutlicher werden als in der Komposition Nr. 2 «Dies Irae» für acht Kontrabässe, Holzwürfel und Klavier (1972/73), die mit kristalliner Einstimmigkeit des Klaviers anhebt, bevor brachial vorwärtsstampfende Streicherakkorde das Ruder übernehmen. Ustwolskajas Insistieren auf elementaren Klanggesten kommt hier dermaßen grobschlächtig daher, als hätte sie die ganze Finsternis, Gewalt und Bedrohlichkeit der Stalin-Ära in sich eingesogen. Spirituelle Entgrenzung und Chiff­ren des Leidens vermischen sich in dieser bis aufs Skelett ausgebeinten Mu­sik bis zur Unkenntlichkeit. Stefano Scodanibbio, nicht unter den Bassisten, sondern überraschenderweise am Pult zu finden, leitet diese manchmal wie stumpfsinnig dahintaumelnde Performance mit radikaler Hingabe an die Schroffheiten der Klangoberfläche – selten hat man Kontrabässe so brutal gehört.
Gravitationszentrum und Kraftzentrale der exzeptionellen Klangsprache Ustwolskajas sind ihre Klaviersonaten, die im Bruitismus der Sechsten (1988) einen kaum noch steigerbaren Extrempunkt erreichen. Der Cluster-Orgie billigt Marino Formenti erwartungsgemäß größtmöglichen Lärm-Faktor zu, ein besinnungsloses Hämmern und Beben im vielfachen Forte, dessen Erschütterungen eine tosende Geräuschkulisse freisetzen. Handflächen und Unterarme sollen hier klangliche Urgewalten entfachen, die nur kurz von einer flüchtigen pp-Partie in lichteren Regionen unterbrochen werden.
Selten zu hören ist Ustwolskajas «Großes Duett» für Violoncello und Klavier (1959), ungefähr zeitgleich mit «systemkonformen» Exerzitien wie «Das Licht der Steppe» oder «Die Ausbeutung der Jugend» entstanden, und doch ist dieses «Frühwerk» bereits vollgültige Ustwolskaja jenseits politischer Kompromisse. Rohan de Saram und Marino Formenti gehen im obsessiven Gestus des Stücks vollkommen auf, und im­mer wieder, besonders in manchen wie nackt dastehenden Melodiezügen, wird klar, dass Ustwolskajas Reduktion aufs Wesentliche bei Dmitri Schostakowisch ihren Anfang nahm.

Dirk Wieschollek