Olbrisch, Franz Martin

Craquelé

Verlag/Label: WERGO WER 67992
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/05 , Seite 89

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 3

Eine Kakophonie schriller Geräusche platzt in alle Richtungen auseinander. Einige von ihnen laufen auf krummen Pfaden weiter, wie eine Zündschnur Funken schlagend, um dann erneut Explosionen auszulösen. Franz Martin Olbrischs Musik ist hoch komplex. Der Komponist bedient sich verschiedener Verfah­ren wie der spektralen Analyse von Klängen und ihrer Übertragung auf das Orchester, mikrotonaler Tonstufen und Reibungen, schwankender Tonhöhen und erweiterter Spieltechniken wie des Streichens mit hohem Bogendruck oder der Multiphonics bei Blasinstrumenten: dies alles in einer Dichte, dass es unmöglich erscheint, jedem einzelnen Klangereignis nachzuhorchen, vielmehr die Komposition sich im Gesamteindruck als breiter Strom wie ein prasselndes Feuerwerk abspult. In grain, dem ersten Orchesterstück auf der CD, wird daraus später ein zähflüs­siger Strom, von dumpfen Viertelschlägen durchsetzt, wie eine alte Dampflokomotive mit kreischenden Rädern kurz vor dem Stillstand. Dann kehrt die Musik zum Anfangsmodus zurück, um in einer Synthese zu enden.
Eine wiederkehrende Figur sind heftige Sforzato-Einsätze, manchmal bis zur Ermüdung: so als ginge es darum, den Hörer mit aller Gewalt davon abzuhalten, mit den Gedanken abzuschweifen. Im zweiten Werk für Flöte und Live-Elektronik geschieht dies durch ein shakuhachi­artiges, geräuschhaftes Anblasen. Yuri Matsuzaki gelingt es, auch mit Hilfe der hochempfindlichen Aufnahmetechnik, aus dem Flötenklang alle Nuancen herauszukitzeln, vom schrillen Pfiff bis zu den sonoren Liegetönen, die nach drei Vierteln des Werks plötzlich überraschend die hektische Betriebsamkeit ablösen und sich zu schwebenden Klangflächen multiplizieren, die dichter und höher werdend verklingen. craquelé, das titel­gebende zweite Orchesterwerk, beginnt dem ersten nicht unähnlich, etwas geräuschhafter, pfeifend, scheppernd. Schlaginstrumente scheinen den Rest des Orchesters zu infizieren. Auch hier tritt mit der Zeit eine Verlangsamung ein: wie ein Schiff, das schließlich auf Grund läuft. Am reizvollsten das letzte, kürzeste Stück coupures de temps … Der Titel erklärt sich durch unterschiedliche Teilungen des Metrums, was so nicht direkt hörbar wird, aber die rhythmische Stringenz steigert. Lange Zeit umspielen sich Flöte und Klarinette in mikrotonalen Gleittönen mit Überblaseffekten, von Schlagzeugschlägen unterbrochen. Die drei Streicher begleiten zurückhaltend, an eine entfernte Kreissäge erinnernd. Dann vermischen sich die Klänge zu Trauben, die zuletzt in ein lustvoll rhythmisches Klappern und Knarzen übergehen.
Im Booklet verbreitet Leonie Juliane Reineke gestelzte Platitüden. Die Musik will «ein akustisches Ereignis» sein, «das beim Hören zum Kunstwerk werden kann». Der Komponist «möchte in seinen Werken Platz für eine Kommunikation zwischen Hörer und Werk schaffen.» Aha.

Dietrich Heißenbüttel