Rebhahn, Michael / Schäfer, Thomas (Hg.)

Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Band 21

Verlag/Label: Schott Music, Mainz 2012 | 123 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/01 , Seite 91

Über die eigentlichen Ferienkurse hinaus strahlen die in Darmstadt geführten Diskurse bis heute auch durch die Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik international aus. Seit 1958 wurde jeweils eine Auswahl der bei den Vorjahreskursen gehaltenen Vorträge veröffentlicht. Indem zunächst jährlich und dann alle zwei Jahre ein Band erschien, entstand ein zentrales Kompendium an Schlüsseltexten der neuen Musik. Doch mit Nummer 18 stagnierten die «Beiträge» 1982, um schließlich 1994 mit Band 19 abzubrechen. Erst fast zwanzig Jahre später sollte Thomas Schäfer als neuer Kursleiter dieses wichtige Forum wiederbeleben. In ähnlicher Aufmachung erschien jetzt im selben Verlag Band 21 mit den wichtigsten Vorträgen und Texten der 2010 erstmals unter Schäfer veranstalteten Darmstädter Ferienkurse.
Präsentiert werden überwiegend neue Positionen. Das signalisiert allein schon das Alter der meisten Autoren, geboren zwischen Mitte der 1960er Jahre und dem jüngsten Jahrgang 1980, Johannes Kreidler. Zur Sprache bringen die jungen Komponisten neben
eigenen Beispielwerken erfreulicherweise vor allem grundsätzliche Fragen, Schwierigkeiten und Chancen des Komponierens heute. Während Clemens Gadenstätter für eine «Schärfung des Sinns für die Sinnsuche» und eine «erkenntnisbezogene Grundlagenforschung (im Feld der ästhetischen Erfahrung)» plädiert, spricht sich Martin Schüttler stellvertretend für Kollegen wie Michael Maierhof, Maximilian Marcoll und Hannes Seidl für eine «diesseitige» Mu­sik aus. Sinnlich erfahrbar und alltagsbezogen schließt diese Musik YouTube-Videos und Popsongs gleichberechtigt ebenso ein wie Instrumente, Waschmaschinen und «alles, was in meiner persönlichen Reichweite liegt». Wie allerdings zu erreichen ist, dass diese Objekte zwar noch Reste ihrer «Aura» erkennen lassen, aber zugleich keine semantischen Beziehungen herausbilden, bleibt indes ebenso fraglich wie die Originalität einer Musik, die uns ein ums andere Mal vor allem «die täglich erfahrbare musikalische und mediale Heterogenität unserer Umwelt» vermittelt.
Heterogene Erfahrungswelten verarbeitet auch die chinesischstämmige Australierin Liza Lim, die neben antiker Tragödie auch chinesisches Straßentheater, schamanische Rituale, Kulte der Aborigines und Wagners Tristan und Isolde zu Ausgangspunkten von Stücken machte. Ganze Audio-Archive dreht auch Bernhard Lang durch die Loop-Mühlen seines Theaters der Wiederholungen. Und wie sehr sich der Darmstädter Themenkatalog gewandelt und geöffnet hat, zeigen auch die Ausführungen von Francisco López über Environments und Bioacoustics sowie Jorge Sánchez-Chiongs prägnantes Panorama über verschiedene Spielarten des Turn­tables von Cage bis zu aktuellen Szene­vertretern. Den im Zeitalter der schnellen Downloads explodierten Materialbegriff bringt schließlich Johannes Kreidler auf den Punkt mit seiner «Mu­­sik mit Musik». Weil durch die Verfügbarkeit der gesamten Musikgeschichte via Internet ohnehin alles nur noch «Remix» und «Mash-up» sei, komponiert der junge Provokateur nicht mehr länger mit Tönen oder Klängen, sondern gleich mit bestehender Musik, um diese zu «musikalisieren». Denn: «Wer für Geige schreibt, schreibt ab.»

Rainer Nonnenmann