Neuenfels, Hans
Das Bastardbuch
Autobiographische Stationen
In einem Interview wurde Hans Neuenfels einmal gefragt: «Schreibt man sich sein Leben als Autobiograf eigentlich schön?» Neuenfels, dessen Name von manch nachhaltig verstörtem Zeitgenossen synonym mit dem Wort «Skandal» gesetzt wird, antwortete so poetisch wie weise: «Die Gestaltung von Texten, Figuren, Szenen war für mich immer existenziell. Das Schreiben wie das Inszenieren sind für mich Auswege aus allem Falschen und Vorgetäuschten. Ohne die Kunst hätte es mich nicht gegeben.»
Schöngeschrieben im Sinne von Beschönigung hat sich Neuenfels seine Lebenserzählung nicht. Der Untertitel ist so ernst zu nehmen wie der Haupttitel. Denn der selbst erklärte «Bastard», der aus einem nicht besonders warmen, aber künstlerisch rege interessierten bürgerlichen Familiennest kopfüber in die Theaterwelt stürzt Schubert hätte wohl von einem geschrieben, der fremd ein- und ausgezogen ist erzählt nicht nur artig chronologisch. Neuenfels künstlerisches Lebenselixier ist das Assoziative. Um das Analytische im wissenschaftlich systematischen Sinn macht der «Bastard» Neuenfels daher einen weiten Bogen, auch in seinen Lebenserinnerungen. Dennoch beschreibt Neuenfels seine Faszination für die Psychoanalyse als Triebfeder: Ihr, so sagt er an einer Stelle, «verdanken meine Theaterarbeiten viel, und das bedeutet: ich ihr ebenfalls. Aber auch wenn ich gierig die Bücher las [
], ich werde nie eine Analyse machen. Es ist weder Scham noch Angst, sondern die Gewissheit, dass ich sonst das Spiel verliere und das qualvolle Aushalten von Situationen falsch beende.»
Und so ist diese Autobiografie realistisches Abbild und Kunstwerk zugleich; Abbild biografischer Stationen, von der Zeitgeschichte in Gang gesetzt und wiederum Zeitgeschichte, Theatergeschichte zumindest, in Gang setzend. Die Neuenfelssche Theaterbiografie beginnt im Grunde mit dem Tagebuch-Notat: «Ich bin neun und neugierig und heiße Neuenfels.» 1959 veröffentlicht der 18-Jährige seinen ersten Gedichtband. Neuenfels erlebt dieses Schreiben als drängende Suche, die in dem einen Jahr, das der brennend Neugierige später als Assistent von Max Ernst in Paris verbringt, eine entscheidende Wende erfährt. Neuenfels entdeckt Verdi für sich und irgendwie auch sein Lebensziel: «Ich will das deutsche Wesen lernen, murmelte ich, aber nicht von der Pike auf, nicht vom Stechschritt her, nicht von den Preußen, eher von den Kobolden, von Novalis und den Melusinen.»
Wie sich dieses Lernen ereignet, das eng verflochten ist mit der Lebens- und Kunstpartnerin Elisabeth Trissenar, gießt Neuenfels in Texte, die formal kaum je eindeutig zuzuordnen sind. Auch wenn dieses Buch bisweilen in seinem lustvoll erzählenden Habitus ins Geschwätzige abzugleiten droht, ist es doch das vitale Dokument eines Theaterregisseurs, der sich auf der Opernbühne über den künstlerischen Umweg letzten Endes doch an die selbst benannte Tabuzone der Psychoanalyse wagt. Musiker und Musikwissenschaftler werden in Hans Neuenfels Retrospektive sicher keine verbindlichen Konzepte finden. Denn sie ist nun mal das Buch eines singulären, manischen Theatermenschen. Es ist ein Buch über einen Künstler, dessen Natur es ist, Leute vom Sessel zu scheuchen. Es ist ein Buch über ein fulminantes Stück deutscher Musik-Theater-Geschichte, illustriert mit einem ausgewählten Bildteil, ergänzt durch ein ausführliches Werkverzeichnis.
Annette Eckerle