Schoon, Andi / Volmar, Axel (Hg.)

Das geschulte Ohr

Eine Kulturgeschichte der Sonifikation (= Reihe Sound Studies, Band 4)

Verlag/Label: [transcript], Bielefeld 2012, 326 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/06 , Seite 94

Es ist ein hochinteressantes, zugleich ein äußerst heikles Gebiet: die Sonifikation, einst definiert als «Gebrauch nichtsprachlicher Klänge und Geräusche, um Informationen zu erhalten». Chancen und Perspektiven der Sonifikation liegen auf der Hand, in Kunst, Wissenschaft und im Alltag. Anschaulich beschreibt Stefan Krebs in seinem Beitrag «Automobilgeräusche als Information», wie KFZ-Mechaniker schon im frühen 20. Jahrhundert ihren Hörsinn nutzten, um Ventileinstellungen oder Kolben- und Wellenspiel akustisch zu prüfen. Axel Volmar wiederum blickt zurück auf «akustemische Technologien» des 19. Jahrhunderts: auf die medizinische Anwendung des Stethos­kops und auf die Umfunktionalisierung des Telefons, das nicht nur zur Übertragung der Sprache, sondern auch zur Erforschung von Funktionsweisen unserer Muskeln und Nerven gebraucht wurde.
Eine Kulturgeschichte der Sonifikation heißt es im Untertitel des 16 Aufsätze umfassenden Bandes Das geschulte Ohr. Anders als bei den Diskussionen im Rahmen der jährlichen Sonifikationskonferenz von Mitgliedern der International Community for Auditory Display (ICAD) geht es hier auf über 300 Seiten um das Sammeln von Erscheinungen, die nicht unmittelbar nach so genannter Wissenschaftlichkeit, nach konkretem Nutzen und möglichen Anwendungen befragt werden. Das ist mehr als legitim, denn dem transdiziplinären Forschungszweig Sonifikation fehlt vor allem eines: das «Abklopfen» künstlerischer wie wissenschaftlicher Phänomene, um die Spreu vom Weizen zu trennen, um Chancen und Perspektiven für eine noch junge Disziplin zu entwickeln, die sicher auch deshalb ins Visier gerät, weil die etablierten visuellen Darstellungsmethoden durch neue Computertechnologien und MP3 seit etwa zwanzig Jahren Konkurrenz bekommen haben.
Um etwas Orientierung im Dickicht vielfältigster Sonifikationsphänomene in Geschichte und Gegenwart zu bieten, gliedern die Herausgeber Andi Schoon und Axel Volmar in zwei Kapitel. Das erste, «Das geschulte Ohr in der Geschichte der Wissenschaften», beleuchtet in Form eines grundlegenden Aufsatzes von Alexandra Supper unter anderem einige Legitimationsprobleme der Sonifikation. Ein Vorwurf lautet, dass das Ohr ein zu subjektiver Sinn sei, um eine adäquate Übertragung von Fakten überhaupt akustisch zu trans­portieren. Leider ist diese Anschauung auch in Kreisen der ICAD verbreitet, sodass – wie der Klangkünstler und Klangforscher Florian Dombois konzediert – viele der besten Sonifikationsbeispiele «rauskuratiert» wurden, weil man «abstruse Vorstellungen von Evaluierbarkeit und Intersubjektivität hatte».
Das zweite Kapitel widmet sich der Sonifikation als künstlerische Metapher und ästhetische Strategie. Während Volker Straebel in den Werken der experimentellen Avantgarde, unter anderem in Alvin Luciers Panorama, einer akustischen, Tonhöhen gebundenen Nachzeichnung eines Alpenpanoramas, eine Sonifikation erblickt, schreiben Michael Harenberg und Daniel Weissberg von der Berner Hochschule der Künste: «Der Versuch, die Sonifikation in eine Kulturgeschichte einzubetten und Bezüge zur Musikgeschichte […] zu finden, ist unseres Erachtens zum Scheitern verurteilt.» (S. 220) Sonifikation ist offenbar nicht nur ein heikles, sondern auch ein widersprüchliches Gebiet. Der sehr lesenswerte Band Das geschulte Ohr stellt nicht nur das unter Beweis.

Torsten Möller