Birtel, Wolfgang / Mahling, Christoph-Hellmut (Hg.)

«Dauerkrise in Darmstadt?»

Neue Musik in Darmstadt und ihre Rezeption am Ende des 20. Jahrhunderts

Verlag/Label: Schott Music, Mainz 2012, 324 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/06 , Seite 91

Manche Mühlen mahlen langsam. Erst mit großer Verspätung nahmen Musikwissenschaft und Musikpädagogik Notiz von den Entwicklungen bei den 1946 begründeten Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt. Und der Tagungsband des Symposions, das sich 1998 am Musikwissenschaft­lichen Institut der Universität Mainz nicht zuletzt eben dieser Zeitverschiebung widmete, erscheint jetzt sagenhafte 14 Jahre später. Indes tut dies den 24 Einzelbeiträgen keinen Abbruch. Vielmehr runden sie den Kreis dreier früherer einschlägiger Darmstadt-Pub­likationen: Von Kranichstein zur Gegenwart (1996), Im Zenit der Moderne (1997) und Darmstadt-Dokumente I (1999) aus der Reihe Musik-Konzepte.
Der fragend behauptende Titel «Dauerkrise in Darmstadt?» ist allerdings irreführend. Zwar schildert der inzwischen verstorbene frühere Kursleiter Friedrich Hommel eine ganze Reihe von Schwierigkeiten, die sich dem Gründer und ersten Leiter Wolfgang Steinecke in den Weg stellten, was die Kurse 1948 fast zum Scheitern gebracht hätte, politisch, personell, konzeptionell, künstlerisch. Doch zentraler Diskussionspunkt ist ansonsten die Frage, inwieweit die Ferienkurse zu einseitig auf die Nachfolge der Dodekaphonie durch den Serialismus gesetzt oder auch Raum für andere Richtungen gelassen haben. Die Ambivalenz der Verhältnisse zeigen persönliche Erinnerungen von Tilo Medek, der sich klar zu seiner Darmstadt-Prägung bekennt und zugleich gegen die «Darmstädter Uniform» polemisiert, während Steinecke noch 1952 – wie Wolfgang Gratzer zitiert – die Idealvorstellung hochgehalten hatte, über die «musikalische Weltlage» informieren zu wollen.
Im Fokus stehen «natürlich» Boulez, Nono und Stockhausen. Markus Frei-Hauenschild untersucht ihre gezielte «Triasbildung als Wirkungsstrategie», Reinhard Kapp ihre Beziehung zu Adornos «Materialbegriff» und Dörte Schmidt ihr Verhältnis zu John Cage. Rudolf Frisius beantwortet die Alternative «Schule oder Zentrum?» mit der ebenso zugespitzten Konjunktion «Mo­nismus und Pluralismus», indem er anhand der Programme von Steinecke, Ernst Thomas, Hommel, Solf Schäfer und Thomas Schäfer (seit 2010) den Weg der Ferienkurse zu einem «pluralistischen, vielfältig-unübersichtlichen Forum» beschreibt. Manfred Schuler, Klaus Trapp und Rainer Fanselau arbeiten – auch mit anschaulichen Tabellen – das verspätete Echo Darmstadts in der Musikpädagogik auf.
Am Ende liest man in Antonio Trudus Beitrag über die Ignoranz der italienischen Musikwissenschaft gegenüber den Ferienkursen schließlich eines der schönsten Bekenntnisse zu Darmstadt, das zeigt, wie sehr die Bewertung der Kurse auch von ganz persönlichen Erfahrungen abhing, vom individuellen Herkommen, Hoffen, Wollen, Suchen, Finden jedes Teilnehmers. Angesichts der damals als «reaktionäre Ketten» empfundenen neoklassizistischen Vorurteile und Nostalgien erlebte Niccolò Castiglioni in Darmstadt «konkrete Freiheit, d. h. Freiheit, sich zu bewegen und zu leben, Freiheit, das zeitgenössische musikalische Material zu verwenden […], Freiheit, vor allem die Gegenwart als eine enthusiastische, auf die Zukunft gerichtete Projektion zu erleben».

Rainer Nonnenmann