Wagner, Christoph

Der Klang der Revolte

Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground

Verlag/Label: Schott Music, Mainz 2013, 388 Seiten, zahlr. Abb.
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/04 , Seite 93

Hochpolitische Brisanz steckte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in Westdeutschland im aufgestauten Spießbürgerlichkeitsverdruss der Nachkriegsgeneration, verklemmte Überbleibsel der vom Wiederaufbau geprägten Adenauer-Ära standen der freien Entfaltung der Jugend im Wege, die sich von bierernster Schlagermentalität verfolgt fühlte. Das Ventil, welches den Überdruss an dieser verklemmten Gesellschaft ins Freie zischen lassen konnte, kam auf einer musikalischen Welle aus Amerika nach Europa. Hier vermischte sich der Klang der Revolte mit der in Good Old England entstandenen Beat Music, die aus den Arbeitervierteln in die Metropolen sickerte und schließlich auch in Deutschland heimisch wurde.
Der Musikjournalist Christoph Wagner arbeitet in einer umfangreichen Bestandsaufnahme Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground zwischen 1967 und 1973 auf und unterzieht dieser etwa siebenjährigen Periode voller Visionen und innovativer Kreativität, wie es sie bis dahin in Deutschland nicht gab und später in der künstlerischen Konsequenz auch so nicht mehr geben sollte, einer kritisch-wohlwollenden Diagnose.
The Who aus England und Jimi Hendrix aus den Vereinigten Staaten von Amerika mischten den braven Schlagersound der alten Bundesrepublik gewaltig auf. Und als hätte die Jugend in Westdeutschland nur auf ein minimales Zeichen gewartet, entlud sich der angestaute Frust in einem heftigen, teils rüden, teils sehr kreativen Klangprozess, aus dem sogar international erfolgreiche Bands wie Can, Tangerine Dream und Kraftwerk, das Globe Unity Orchestra, Kraan und Amon Düül hervorgingen. Als die Dämme gebrochen waren, ragten vom Woodstock Festival inspirierte Veranstaltungen wie 1970 auf Fehmarn oder die Internationalen Essener Songtage als Leuchtturmereignisse aus dem Underground heraus. Wagner beobachtete von Baden-Würt­temberg aus die immer selbst­bewusster auftretende Szene und war auch selbst in ihr aktiv. Der sogenannte Kraut­rock, wie die Engländer die deutsche Beat- und Undergroundmusik nannten, be­saß eine politische Dimension und zählt zu den innovativsten Errungenschaften der Jugendrevolte auf dem europäischen Festland. Noch heute wirkt diese so typisch «undeutsche» Musik nachhaltig auf nachgewachsene Musikergenerationen im In- und Ausland.
Neben der Revolte in den großen und mittleren Städten gab es den Rückzug in die Idylle, wo in landschaftlich reizvoller Abgeschiedenheit ordentlich auf die Pauke gehauen wurde. Auf dem Land bildeten sich Kommunen (die Gruppe Faust zum Beispiel ankerte in Wümme/Niedersachsen), die versuchten, «nach urkommunistischen Idealen zu leben und die ‹Umwertung der Werte› im Alltag zu erproben …».
Wagner untersucht neben vielen anderen Phänomenen «Wie das Deutsch in die Rockmusik kam» und beschäftigt sich mit den Auswirkungen psychedelischer Drogen und Musik auf die junge Generation.
Obwohl das Buch nur einen relativ kurzen Zeitraum experimenteller, unabhängiger und «revolutionärer» Musik im zweiten Jahrzehnt der Bundesrepublik abhandelt, ist es Wagner gelungen, nicht nur die Zeit, sondern vor allem den Gedanken des Aufbruchs und das Phänomen einer neuen «Aufklärung» detailgenau darzustellen. Der Klang der Revolte ist zugleich das Ergebnis eines tiefen Verständnisses für die Zeit und ihre musikalische, lebendige Neugier auf Abseitiges im besten Sinne und ein hilfreiches Nachschlagewerk.

Klaus Hübner