Der Taktstock
Dokumentarfilm von Michael Wende | 65 min.
Musikwettbewerbe sind meist ebenso spektakulär wie problematisch. Die Spannung steigt mit jedem Durchgang, die Emotionen gehen hoch, und im Publikum werden die Entscheidungen der Jury oft hitziger diskutiert als in dieser selbst. Ein Musikwettbewerb ist eben anders als ein 100-Meter-Lauf, wo sich der Sieger zentimetergenau bestimmen lässt. Dies gilt erst recht für einen Dirigierwettbewerb, wo es nicht einmal auf richtige und falsche Noten ankommt. Der Subjektivität sind Tür und Tor geöffnet, und es stellen sich eine Menge Fragen.
Ihnen geht der Film nach, den Michael Wende beim Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerb in Bamberg 2010 gedreht hat. Zu den Wettbewerbsstücken gehörten neben der vierten Sinfonie und einigen «Wunderhorn»-Liedern von Mahler Werke von Haydn, Webern, Pintscher und Widmann. Zwölf Teilnehmer aus neun Ländern stellten ihr Können unter Beweis und lieferten mit ihrer Arbeit den Stoff für eine lehrreiche Untersuchung der alles entscheidenden Frage: Wie muss der Dirigent seine Bewegungen gestalten, damit die Musiker seine Vorstellungen verstehen und das Werk seine spezifische Form erhält? Oder, nach den Worten von Jurymitglied Matthias Pintscher: Wie funktioniert dieser Kommunikationsprozess, diese «Übersetzung über das Instrument des Orchesters zu einem Publikum»?
Da gibt es einmal die Technik der Zeichengebung, bei der es auf die Zweckmäßigkeit der Bewegungen ankommt: Genauigkeit, Eindeutigkeit und das Weglassen aller überflüssigen Gesten. Das lässt sich zu einem gewissen Grad objektivieren. Doch Körpersprache ist nicht nur Technik: Auf dem Podium steht immer der konkrete Mensch, der neben seinen analytischen Kenntnissen der Partitur auch seine individuellen Gefühle in die Bewegungen einfließen lässt spontan, momenthaft und unkorrigierbar. Deshalb, sagt Jonathan Nott, Chef der Bamberger Symphoniker und Vorsitzender der Jury, kann man bei der Beurteilung eines Dirigenten nicht einfach wie am Computer Kästchen mit Ja oder Nein anklicken es bleibt ein rational schwer erfassbarer Rest. Um ihn zu fassen, scheut sich Nott nicht, von der «Magie des Dirigierens» zu sprechen. Der Gewinner des Wettbewerbs, der Lette Ainars Rubikis, drückt es so aus: «Die meisten Menschen erkennen gar nicht, welche Macht in der Musik steckt in guter und in schlechter.»
Je länger der Film dauert, desto mehr rückt dieser «Rest» ins Blickfeld, und desto deutlicher wird, dass er letztlich der Garant für eine lebendige Kommunikation zwischen Dirigent, Orchester und Publikum und damit für eine gelungene Aufführung ist. Technik ist bloß eine wichtige Voraussetzung, um diesen kreativen Prozess in Gang zu setzen. Unter diesem Aspekt erweist sich der Bamberger Wettbewerb als genuines Kontrastprogramm zu den Dirigierkursen von Pierre Boulez in Luzern, die sich strikt auf die analytischen und handwerklichen Seiten des Dirigierens beschränken und den «Rest» bewusst ausklammern.
Mit Konzertaufnahmen aus den letzten Durchgängen des Wettbewerbs, mit Interviews mit den Juroren und vor allem mit den Teilnehmern selbst gelingt es dem Film, diese begrifflich schwer zu fassenden Vorgänge darzustellen. Backstage-Aufnahmen geben einen Einblick in die adrenalingeschwängerte Atmosphäre des Wettbewerbs, und wenn am Schluss der Favorit zum entscheidenden Dirigat aufs Podium hinaustritt, fiebert man unwillkürlich mit.
Die Animationszeichnungen mit den Kommentaren aus dem Off sind eine hübsche Idee, lenken mit ihrem humorigen Pädagogisieren manchmal aber auch vom Geschehen auf und hinter der Bühne ab. Auch die Special Effects wirken in ihrer Verspieltheit gelegentlich etwas selbstzweckhaft. Dafür muss man sich die Namen der Kandidatinnen und Kandidaten mühsam zusammensuchen. Durch die Vermischung der Genres Dokumentation und Animation soll offenbar ein Publikum angesprochen werden, das sich solchen anspruchsvollen Themen gerne auf unterhaltende Weise nähert. Was nicht ganz ohne Tücken ist, denn damit kann man auch schnell zwischen den Stühlen landen. Das wäre diesem Film nicht zu wünschen, wartet er doch auch ohne äußere Zugaben mit spannenden Blicken hinter die Kulissen und Erkenntnissen über die Psychologie des Dirigierens auf.
Max Nyffeler