Lehmann, Harry
Die digitale Revolution der Musik
Eine Musikphilosophie
Mangelnde Ambition kann man dem 47-jährigen Physiker und Philosophen Harry Lehmann nun wirklich nicht vorwerfen. In seiner nur 150 Seiten knappen Musikphilosophie «Die digitale Revolution der Musik» leistet er nicht nur eine durchdringende Analyse der gegenwärtigen Situation der Neuen Musik unter soziologischen, historischen und ästhetischen Gesichtspunkten, er schlägt dem Genre auch gleich vor, wie es sich aus seiner gesellschaftlichen Randstellung befreien könnte. Sein Zauberwort heißt «Gehaltsästhetik» und meint nichts anderes als eine Zuwendung der KomponistInnen Neuer Musik zur Komplexität realer gesellschaftlicher Gegenwart, die sich eben nicht «automatisch» in der Komplexität autonomer musikalischer Strukturen widerspiegele, sondern erst mühsam durch intelligente Konzeptualisierung des musikalischen Materials (rück-)erobert werden müsse.
Sowohl die Nachkriegsavantgarde als auch deren Erben werden einer nüchternen, argumentativ stets nachvollziehbaren Kritik unterzogen, die den Anachronismus bzw. die intellektuelle Inkonsistenz dieser Entwürfe überzeugend aufzeigt. Stilistisch unterscheidet dies Lehmanns Buch wohltuend von anderen Musikphilosophien, etwa Adornos «Philosophie der neuen Musik» aus dem Jahre 1949 oder Albrecht Wellmers 2009 erschienenem «Versuch über Sprache und Musik». Bezog Adorno sein Theoriebesteck noch von Philosophen des 18. Jahrhunderts (Kant, Hegel), hatte sich sein Schüler Wellmer immerhin schon zu Wittgensteins Sprachphilosophie des frühen 20. Jahrhunderts vorgearbeitet. Lehmann hingegen stützt sich furchtlos auf die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns sowie die poststrukturalistische Dispositiv-Analyse Michel Foucaults, durchleuchtet also die Musik des 20. Jahrhunderts mit Theoriewissen aus deren eigener Entstehungszeit.
Seine Kernaussage ist, dass die Musiktechnologien des 21. Jahrhunderts also sample-basierte virtuelle Orchester, algorithmische Kompositionssoftware, frei zugängliche hochwertige Klangarchive und «mitdenkende» Notationsprogramme ganz allmählich die institutionellen Rahmenbedingungen auch der Neuen Musik verändern werden, was auf deren Selbstverständnis nachhaltige Auswirkungen haben wird. Sie wird gezwungen sein, sich neu zu erfinden, da die immer noch prägenden Rahmenbedingungen ihrer Entstehungszeit, also die 1950er Jahre, immer weniger geeignet sind, künstlerische Problemlagen des 21. Jahrhunderts institutionell und ästhetisch angemessen zu bewältigen. So wird sich die Neue Musik nicht nur «ent-institutionalisieren» und «demokratisieren», ihre Akteure werden sich auch zu entscheiden haben zwischen einem sich in «schlechter Unendlichkeit» (Hegel) verlierendem Traditions-Modernismus à la Lachenmann bzw. Mahnkopf oder eben einer durchdacht konzeptualisierten, runderneuerten Neuen Musik, die die spezifischen Freiheiten des 21. Jahrhunderts nicht nur kulturpessimistisch als Orientierungs- und Niveauverlust zu kommunizieren weiß, sondern als offenen, noch weitgehend unmarkierten musikalischen Möglichkeitsraum. Erste Ansätze zu einer solchen «relationalen» (und eben nicht «absoluten») Neuen Musik sieht Lehmann im Schaffen Johannes Kreidlers, der heuer den Kranichsteiner Musikpreis gewann.
Stefan Hetzel