Metzger, Heinz-Klaus

Die freigelassene Musik – Schriften zu John Cage

hg. von Rainer Riehn und Florian Neuner

Verlag/Label: Klever, Wien 2012 | 220 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/01 , Seite 90

«Meine erste Begegnung mit John Cage 1958 in Darmstadt wälzte meine Versuche zu denken so von Grund auf um wie kein anderes Ereignis meines Lebens. Meine bis dahin wesentlich an Hegel, Marx, Horkheimer, Adorno geschulte Methodologie erhielt schlag­artig ganz andere Perspektiven …», schrieb Heinz-Klaus Metzger 1996 an seinen Freund Lothar Knessl. Cage wurde nach der Darmstädter Begegnung von Metzger als gleichermaßen End- und Nullpunkt der musikgeschichtlichen Entwicklung betrachtet; einer Entwicklung, in deren Verlauf sich nach Theodor W. Adornos Philosophie der neuen Musik das musikalische Material in permanenter ‹Verengung und Erwei­terung› befunden hatte. Für Metzger (nicht für Adorno) mündete es schließlich in Cages finales Alles und Nichts. Die Werke, die für Metzger dabei maßgeblich waren, sind Cages Concerto for piano and orchestra, dessen Kölner Aufführung er 1958 erlebte, sowie die ebenfalls 1958 entstandenen Variations I. Bei Ersterem war für ihn die ‹Abschaffung der Partitur› visionär wie auch die Tatsache, dass durch die freie Wahl der Anzahl der teilnehmenden Instrumente bzw. Stimmen in letzter Konsequenz auch die Realisation keiner der Stimmen eine Aufführung sein könne: «… so dass die Nichtaufführung sich als eine der möglichen Interpretationen des Werks darstellt».
An den Variations I faszinierte ihn die musikphilosophische Überlegung, dass die unzähligen möglichen Realisationen des immer wieder neu zu erarbeitenden Werks letztlich auch alle bereits existenten wie auch alle noch zu schreibenden Musikwerke theoretisch implizierten. Er brachte es auf die Formel, «dass die Fünfte Symphonie von Beethoven eine der unendlichen vielen möglichen Versionen der Variations I […] ist».
Weit weniger Interesse schenkte Metzger Cages legendärem ‹stillen› Stück 4’33’’, was umso mehr verwundert, als die von ihm bei den genannten Werken angestellten musikphilosophischen Überlegungen sich in gewisser Weise auch auf 4’33’’ übertragen lassen. Gleichwohl sah Metzger 4’33’’ als ‹Antwort› auf «eine[n] geschichtlichen Moment, […] da einzig das Nichts als Negation des Etwas zu erwägen war»; und für das Kleine Wörterbuch der Tonkunst verfasste er auch einen kleinen Beitrag zu 4’33’’.
Grundsätzlich war nicht nur Cage für Metzger ein Glücksfall, auch umgekehrt hätte es ohne Metzger die seit den späten 1950er Jahren stattfindende europäische Cage-Rezeption nicht gegeben. Nicht zuletzt durch Metzgers scharfsinnige Analysen und Erläuterungen wurden Cages Werke von der clow­nesken Verfemung befreit und ihre kompositorische Tiefe und Diffizilität freigelegt – detailliert und umfangreich nachzulesen in dieser erfreulichen Pub­likation, die Buch- und Zeitschriftenpublikationen, Rundfunktexte, Vorträ­ge, Briefe u. a. versammelt.
Metzgers anfangs zitierter Brief an Lothar Knessl endet mit den kryptischen Worten: «Von ihnen [den Perspektiven, T. M.] manifest zu handeln, hieße letztlich, meine Karten auf den Tisch zu legen. Dafür aber ist es, so alt ich bin, zu früh.» Nicht auszuschließen, dass einer der letzten Texte Metzgers mit dem Titel «‹Earth’s no escape from heaven›. Aufklärung und Mystik bei John Cage – eine Dialektik?» (ein Beitrag für ein Kolloquium in Dresden 2007) ein solches ‹Manifest› hätte sein sollen. Leider aber ist gerade dieser mündlich vorgetragene Text von ihm selbst nicht mehr redigiert worden.

Thomas M. Maier