Reinhard Kager
Die Kraft der Verwandlung
Zur spektakulären Uraufführung von Olga Neuwirths «Orlando» an der Wiener Staatsoper
“… gelingt es Neuwirth […] heutige Machtstrukturen begreifbar zu machen. Wie treffsicher dieser Ansatz war, zeigte sich nach der Uraufführung, als die karikierende Verwendung des Kirchenlieds «Danke für diesen guten Morgen» von Martin Gotthard Schneider auf Betreiben der Erben des Komponisten gerichtlich untersagt wurde. Die Botschaft ist angekommen.” (Reinhard Kager)
Unruhig wälzt sich Orlando auf seinem Bett. Erstes Liebesleid quält den jungen Mann, den die junge Russin Sasha (Agneta Eichenholz) gerade verlassen hat. Langsam zoomt die Kamera heran und projiziert das schmerzerfüllte Gesicht Orlandos auf meterhohe Videopaneele. Plötzlich beginnt sich das Porträt zu teilen, die Paneele werden gekippt, und die Gesichtsfragmente mutieren zu einer Vulva – Orlando ist zu einer Frau geworden.
Bereits 1928 schuf Virginia Woolf mit ihrem Orlando im gleichnamigen, als Biografie getarnten Roman eine traumtänzerisch durch Jahrhunderte wandelnde, alterslos-androgyne Person, die zahlreiche Identitätswechsel durchlebt, ehe sie sich am Ende über ihre ignorante Umwelt hinwegsetzt und zu dem steht, was sie ist: eine hochtalentierte selbstständige Dichterin.
Im Auftrag der Wiener Staatsoper hat die österreichische Komponistin Olga Neuwirth den Stoff in ihrem Musiktheater Orlando aufgegriffen und in Kooperation mit der Autorin Catherine Filloux bis in unsere Gegenwart (in Englisch) fortgeschrieben. Musikalisch bedient sich Neuwirth angesichts der Jahrhundertreise ihrer Titelfigur, die die viril-dunkle Mezzosopranistin Kate Lindsey beeindruckend verkörpert, verschiedener musikalischer Sprachen.
Fragmente aus barocken Madrigalen und Chorälen werden anfänglich zitiert, auch volksmusikalische Weisen blitzen auf, bis am Ende durch eine verstärkte Band Anklänge an die heutige Rockmusik laut werden. Und doch gibt es in all dieser bunten Heterogenität ein verbindendes Element: den Orchestersatz, mit dem nicht nur die historischen Allusionen, sondern auch die gesprochenen Passagen der neutral kommentierenden Erzählerin (Anna Clementi) unterlegt werden.
Matthias Pintscher am Pult, selbst einer der renommiertesten Komponisten der Gegenwart, ermutigt das Orchester der Wiener Staatsoper dazu, ausnahmsweise einmal so richtig «schmutzig» zu spielen. Bereits das Instrumentarium, das Neuwirth vorgibt, erweitert den üblichen philharmonischen Sound: Neben drei großen Perkussionssets kommen im Graben ein Altsaxofon, ein Sampler, zwei Synthesizer und eine E-Gitarre zum Einsatz, deren Saiten überdies um sechzig Cent höher gestimmt sind. Im Gegenzug müssen sämtliche zweiten Geigen um sechzig Cent tiefer gestimmt werden als üblich. Und so legt sich über all die historischen Bezüge stets eine Art schmutzige Schicht unserer düsteren Gegenwart.
Es ist diese Mischung aus kritischem Ernst und beißender Ironie, die den Abend auch szenisch so spannend macht. Regisseurin Polly Graham, erst Mitte Oktober für Karoline Gruber eingesprungen, und Bühnenbildner Roy Spahn spielen dabei nur eher untergeordnete Rollen. Denn die Szene dominieren die auf sechs riesige Paneele projizierten Videos von Will Duke. Auf ihnen zeigt der Künstler zunächst schöne Naturlandschaften: Hügelland mit Bäumen, ein Winterszenario mit einem vereisten See. Aber auch historische Innenräume, wie den mit flackernden Kerzen stilisierten Hof Elizabeth I., wo Neuwirth die von einem Guardian Angel (Eric Jurenas) begleitete Zeitreise Orlandos beginnen lässt.
Dadurch dass nur selten eine geschlossene Video-Wand zu sehen ist, weil die Elemente beständig verschoben werden und das Gezeigte somit ähnlich fragmentiert wird wie Neuwirths Musik, erhält das Szenario einen brüchigen Abstraktionsgrad, wodurch die Bilder nie platt wirken. Sogar dann, als sich die schönen Naturlandschaften durch Morphing-Prozesse allmählich in Wüsten verwandeln – und somit die heutige Klimakatastrophe präsent wird – oder Filmausschnitte aus den beiden Weltkriegen mit all ihrer Zerstörungskraft zu sehen sind.
Durch dieses Changieren zwischen Satire und tiefer Bedeutung ergänzt das – durch groteske Kostüme von Comme des Garçons vollends überbordende – Szenario Neuwirths Musik auf das Trefflichste. Und führt auch zum eigentlich Kern der Erzählung: Durch den Geschlechtertausch kann Orlando schlagartig den verheerenden Verlauf der Menschheitsgeschichte als Resultat patriarchalischer Herrschaftsstrukturen begreifen.
Auch wenn im zweiten Teil des dreistündigen Abends allzu viele Problemzonen der Gegenwart bloß angetippt werden und das Stück im Finale hörbare Längen besitzt, gelingt es Neuwirth durch diesen Perspektivenwechsel heutige Machtstrukturen begreifbar zu machen. Wie treffsicher dieser Ansatz war, zeigte sich nach der
Uraufführung, als die karikierende Verwendung des Kirchenlieds «Danke für diesen guten Morgen» von Martin Gotthard Schneider auf Betreiben der Erben des Komponisten gerichtlich untersagt wurde. Die Botschaft ist angekommen.
Reinhard Kager