Scelsi, Giacinto

Die Magie des Klangs

Gesammelte Schriften, Band 1 und 2 | hg. von Friedrich Jaecker

Verlag/Label: MusikTexte, Köln 2013, 868 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/02 , Seite 94

«Der Klang ist die erste Bewegung des Unbewegten, und das ist der Beginn der Schöpfung» – so lautet das Credo des italienischen Komponisten Giacinto Scelsi, der als ein Außenseiter in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts gilt. In seiner schöpferischen Arbeit ging Scelsi allein vom Klang aus, dem er, beeinflusst von fernöstlicher Philosophie, magisch-spirituelle Kräfte zusprach. Er «fantasierte» zumal auf der elektronischen Ondiola und ließ die Ergebnisse von Assistenten ausnotieren. Welche Rolle den Assistenten bei der Realisierung der Werkgestalt letztlich zukam, ist umstritten. Die ausgeprägte Eigensinnigkeit und hohe Suggestivkraft von Scelsis Musik sprechen jedoch für die Dominanz seiner künstlerischen Handschrift.
In diesem Punkt bietet die zweibändige Publikation Die Magie des Klangs zwar keine endgültige Klärung, erkenntnisreich ist sie dennoch in jeder Hinsicht. Mit akribischer Forschungsarbeit ist es dem Herausgeber Friedrich Jaecker, selbst Komponist und Hochschullehrer, gelungen, Scelsi in zentralen Aspekten in neuem Licht erscheinen zu lassen. Das Besondere dabei ist, dass dies vor allem durch dessen Schriften selbst geschieht, die nun in hervorragenden deutschen Übersetzungen vorliegen. Sie umfassen die Autobio­grafie Der Traum sowie Lyrik, Briefe, ästhetische Schriften und Reflexionen, Interviews und Werkkommentare, zum Teil zweisprachig abgedruckt. Einführende Betrachtungen von Ernstalbrecht Stiebler und Fried­rich Jaecker selbst bereiten sinnfällig auf Scelsis gedanklichen Kosmos vor. Kommentare und ein umfangreicher Fußnotenapparat schlüsseln Details auf und ergänzen die Texte mit exakten Recherchen.
Schon Scelsis Autobiografie ist ein Genuss: sein scharfsinniger Blick auf das italienische Musikleben, seine Besuche bei Ärzten und deren irrwitzige Diagnosen. «Allen Künstlern, die Talent haben» rät er: «Studiert nicht!» Es käme einzig darauf an, aus innerer Notwendigkeit heraus zu schaffen, den Kontrapunkt vergleicht er hingegen mit einem Spiel mit Bauklötzen. Gleichwohl war Scelsi eng mit dem Musikleben vernetzt; gleichermaßen plastisch wie amüsant erzählt er von seinen Begegnungen mit dem Sitarvirtuosen Ravi Shankar oder dem Pilz­experten John Cage.
Im zweiten Teil von Der Traum wird die Sprache selbst Musik, und Scelsis verschlungene Metaphern würden sich mindestens ebenso gut zur Rezitation mit Musik eignen wie die Indeterminacy-Storys von Cage. Erst recht seine tiefsinnige Lyrik, die ihren spröden Charme gerade beim lauten Lesen voll entfaltet. Das Spektrum reicht von beiläufigen Lebensweisheiten bis zu surrealen Visionen, schlägt aber immer wieder auch den Bogen zu den ästhetischen Schriften. Diese, etwa der Aufsatz «Einheit und Gleichheit der Künste», zeigen markant auf, dass die Vorstellung von Scelsi als introvertiertem Eigenbrötler nicht zu halten ist oder zumindest nur eine Seite repräsentiert. Scelsi war vielmehr eine schillernde Persönlichkeit und ein sehr reflektierter Künstler, der wie kaum ein anderer über ästhetische Belange nachdachte – auch über die Beziehungen der Künste untereinander, die er als verschiedene Ausdrucksformen einer göttlichen Einheit begriff.

Egbert Hiller