Bruhn, Siglind

Die Musik von Jörg Widmann

Verlag/Label: Edition Gorz, Waldkirch 2013, 244 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/04 , Seite 90

Der Titel dieser ersten wissenschaftlichen Monografie zur Musik Jörg Widmanns klingt ebenso nüchtern wie vielversprechend. Die Autorin, die in den Vereinigten Staaten forscht, im Breisgau lebt und das Manuskript mit dem Komponisten eingehend diskutierte, kann sich einer Pioniertat sicher sein, die großen Erwartungen indes, die an ein Buch solchen Gegenstandes zu stellen sind, nicht alle erfüllen.
Das liegt vor allem an ihrem methodischen Zugriff. Bruhn geht in ihrer Untersuchung 18 ausgewählter Kompositionen strikt Werk für Werk vor (die Auswahl und Gliederung überzeugt mit Ausnahme des Klarinetten-Kapitels, in dem man Fantasie und Fünf Bruchstücke weit mehr erwartete als Sieben Abgesänge, Oktett und Quintett; und man vermisst die zentralen Freien Stücke). Dabei weicht sie vom formalistischen, struktur- und materialorientierten Blick auf die Musik nur selten ab. Die Ergebnisse dieser kleinteilig-minutiösen Schritt-für-Schritt-Analysen liest man durchaus mit Gewinn. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob eine solche Methodik – zumal im Falle der Musik Widmanns – nicht zur Einseitigkeit neigt und die Vielfalt, aber auch die Kontinuitäten von Widmanns Komponieren, der Beziehungszauber der Werke untereinander, nicht weit besser abgebildet wären in einer motiv- und wirkungsorientierten Darstellungsweise, die zentrale Gestaltungsverfahren und charakteristische Facetten des Œuvres (etwa Fantastik und Virtuosität, Fragment und Echo, Brüche und Übergänge, die Psychedelik der Klänge) gleichsam in verweilendem Flug nähme und brennpunktartig fokussierte.
Die Besprechung der «Trilogie von Streicherwerken nach griechischen Mythen» (Insel der Sirenen, Ikarische Klage, Teiresias), in der der Komponist die Klangmacht der Musik selbst zum Gegenstand erhebt – und mit ihr eines der wichtigsten Fundamente seiner musikalischen Poetik –, gelingt wohl auch deshalb am überzeugendsten, da hier die Autorin Funktion und Deutung des sinnlichen Elements, die psychisch-seelische Ausdrucksdimension der Musik, nicht – wie etwa in der Analyse der Messe der Fall – zwischen Parenthesen fast zum Verschwinden bringt, sondern in großer Dichte und auch sprachlicher Eindringlichkeit zu fassen versucht.
Einen geradezu logischen Kulminationspunkt erreicht das Buch in der abschließenden Untersuchung des jüngsten Großwerks, der Oper Babylon, anhand der die Autorin in lückenloser Aufschlüsselung der Selbstzitate – aber ohne Verweis auf das in dieser Hinsicht kapitale Vorgängerwerk Am Anfang – ein zentrales Merkmal von Widmanns kompositorischer Strategie freilegt und diesen «neuen Blick auf früher Geschaffenes» unter zutreffendem Verweis auf das kritisch-reflexive Parodie-Verständnis («Gegenlied») und ähnliche Verfahren eines work in progress bei Pierre Boulez und Wolfgang Rihm eingehend würdigt.
Als «eine erste Bestandsaufnahme» hat Bruhn ihr Buch in fast zu bescheidener captatio benevolentiae bezeichnet. Man wird in Zukunft an ihm wie auch weiterhin an dem für Einblicke in Widmanns Werk bislang maßgeblichen Interview-Band von Markus Fein (Im Sog der Klänge, Mainz 2005) nicht vorbeikommen.

Rafael Rennicke