Janácek, Leo
Die Sache Makropulos
Eine Produktion der Salzburger Festspiele 2011 | 118 min.
Der Regisseur Christoph Marthaler liebt die philosophisch angehauchte Komik, und bei Leo Janáceks Oper «Die Sache Makropulos» ist er wieder einmal fündig geworden. Das 1926 in Brünn uraufgeführte Spätwerk basiert auf einer Komödie von Janáceks Landsmann Karel Capek, Autor von utopischen Romanen. In dem dialogreichen Stück geht es um eine verwickelte Erbschaftsangelegenheit, in deren Zentrum die Sängerin Emilia Marty steht. Zum Erstaunen aller kennt sie die jahrhundertalten Schriftstücke, die über das Erbe Auskunft geben, und am Schluss kommt heraus, dass sie die 337 Jahre alte Elina Makropulos ist, Tochter des Leibarztes von Kaiser Rudolf II. Aufgrund eines lebensverlängernden Elixiers, das ihr der Vater probeweise verabreicht hatte, konnte sie nicht mehr sterben, und erst als sie das Dokument mit der Formel wieder in die Hände bekommt, kann sie Abschied von ihrem unerträglichen zeitlosen Dasein nehmen. Emilia/Elina ist die weibliche Gegenfigur zum Fliegenden Holländer, nur antiromantisch, denn hier wird nicht durch Liebe erlöst, sondern durch die Annullierung einer alchemistischen Formel.
Eine leicht gespenstische Seite ist dieser Dialogoper trotz ihrer komischen Elemente nicht abzusprechen. Marthaler macht daraus aber keine schwarze Komödie, sondern stellt einen zutiefst menschlichen Aspekt der intrigenreichen Geschichte ins Zentrum: die Lebensblindheit der im täglichen Getriebe gefangenen Menschen, die erst im Moment, da sie der zeitüberdauernden Existenz der Emilia Marty gewahr werden, zur Besinnung kommen. Am Schluss dominiert ein versöhnlicher Tonfall. Anna Viebrock hat für Marthaler eine große, weite Bühnenarchitektur geschaffen, die ein Interieur mit weiten Durchblicken, Gängen und Abstufungen darstellt. Es bietet Platz für parallel ablaufende Nebenhandlungen, mit denen die Zeitüberlagerungen und
-verschlingungen des Hauptgeschehens allegorienhaft kommentiert werden. Einige Statisten und kleine Rollen stellen gegenwärtige Menschen mit ihren alltäglichen kleinen Gesten dar und rücken das Geschehen damit ganz nah an unsere heutigen Verhaltensweisen und Empfindungen heran. Die surreale Fiktion wird in eine wunderliche Gegenwart übersetzt, Realität und Irrealität durchdringen sich auf behutsame Weise.
Angela Denoke ist die überragende Hauptdarstellerin. Sie zieht die Fäden des Geschehens erst unauffällig, dann auf immer dominantere Weise und macht auch stimmlich eine herausragende Figur. Auch die anderen Rollen sind erstklassig besetzt, und zusammen mit den Wiener Philharmonikern sorgt Esa-Pekka Salonen für ein grandioses Aufblühen der farbenreichen Musik. Die Bildregie von Hannes Rossacher beobachtet das Geschehen mit unauffälliger Präzision. Eine bessere Aufzeichnung dieses selten gespielten Meisterwerks der Moderne ist gegenwärtig nicht denkbar.
Max Nyffeler