Korngold, Erich Wolfgang

Die tote Stadt

Verlag/Label: Oehms Classics OC 948 (2 CDs)
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/01 , Seite 80

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Kaum zu glauben: Als Neunjähriger spielte Erich Wolfgang Korngold, Sohn des renommierten Musikkritikers Julius Korngold, dem Wiener Hofopern-Direktor Gustav Mahler seine Kantate Gold vor, woraufhin ihn dieser zum Genie erklärte und der Obhut Alexander Zemlinskys empfahl. Sein früher Ruhm gründete sich auf die Oper «Die tote Stadt». Ihr Libretto verfasste sein Vater nach dem Roman «Bruges-la-morte» (Das tote Brügge) des flämischen Schriftstellers Georges Rodenbach. Korngold junior zählte gerade mal 23 Lenze, als die Oper 1920 in Köln und Hamburg Premiere feierte. Als erste deutsche Oper nach dem Krieg ging das Werk bald auch an der Met in Szene.
1934 nahm ihn Max Reinhardt mit nach Hollywood, wo er als Filmkomponist reüssierte, wodurch er der Judenverfolgung des NS-Regimes im «angeschlossenen» Österreich entging. Nach 1945 suchte er im befreiten Heimatland vergeblich an seine frühen Erfolge anzuknüpfen. Erst 1975, 18 Jahre nach seinem Tod, erlebte sein Meisterwerk in New York eine Wiederaufführung. «Seine üppige spätromantische Harmonik, seine melodische Gabe und die pulsierende Sinnlichkeit seiner Musik scheinen wieder Geltung zu erlangen», mutmaßte Grove’s New Dictionary 1980.
Gegenüber älteren Aufnahmen bei RCA und Naxos besitzt die vorliegende Edition den Vorzug, dass ihr eine Radio-Direktübertragung der Frankfurter Inszenierung von 2009 (Regie: Anselm Weber) zugrunde liegt, welche die Unmittelbarkeit des Bühnengeschehens dokumentiert, ohne auf die Segnungen nachbereitender Studiotechnik zu verzichten.
Die im flämischen Brügge spielende Oper, die treffender «Das Trugbild» hieße (wie die Dramenfassung des Romans), mildert den Mordfall – Wahnsinnstat unterm Zwang einer halluzinatorischen Wunschpsychose – in einen Albtraum, der sich zuletzt in ein «lieto fine» auflöst. Musikalisch bewegt sich die Geschichte des Träumers Paul, der den Tod seiner Frau nicht verwinden kann, ihr Sterbezimmer als «Kirche des Gewesenen» heiligt und sie in der Tänzerin Marietta wiederzuerkennen glaubt, im Strömungsfeld der Operngenies Giacomo Puccini und Richard Strauss. Das Klima der Décadence, die symbolistische Aura des Fin de Siècle sind ebenso sujetbedingt wie die Schattenwürfe der Oper «Robert le Diable» von Giacomo Meyerbeer.
Korngold ist nicht nur ein Melodiker von Gnaden, er ist auch ein Meister der Stimmungsmalerei. Seine Bühnenmusik wirkt – nicht zuletzt dank der besessenen Orchester- und Ensembleleitung des jungen Dirigenten Sebastian Weigle – überaus sinnlich und suggestiv. Sie rauscht auf, beschwört, betört und verklärt, verliert sich in die Traumgesichte Pauls: Traumrolle des norddeutschen Tenors Klaus Florian Vogt, die er zuvor bereits in Amsterdam und an der Wiener Staatsoper verkörperte (und hernach in Madrid und Helsinki). Auch seine Protagonisten erweisen sich als Idealbesetzung: die enorm wandlungsfähige russische Sop­ranistin Tatiana Pavlovskaya als Marietta und Erscheinung Mariens (Pauls verstorbene Gattin), der junge Bariton ungarischer Herkunft Michael Nagy als Pauls Freund Frank und die Mezzosopranistin Hedwig Fassbender als Haushälterin Brigitta.

Lutz Lesle