Reich, Steve
Different Trains
Triple Quartet | Piano Counterpoint | Different Trains
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4
Für die einen ist die Musik von Steve Reich schon Pop, für die anderen firmiert der mittlerweile 75-Jährige als moderner Klassiker. Die eine wie die andere Position verstellt jedoch den Blick auf die Ecken und Kanten, die Reich seiner Musik in bester musikphilosophischer Absicht zugefügt hat. Allerdings: Reich, der die Technik des stilistischen Samplings und Remixings kultiviert, lässt es ja auch wieder zu, dass von seiner Musik einmal eher die glatte, populistische Oberfläche, dann wieder eher die schrundige, verletzliche Seite gezeigt wird. Was seine Musik jedoch nicht zulässt, ist technische Schlamperei. Für Reich gilt die Regel: Präzision ist nicht alles, aber ohne Präzision ist alles nichts.
Die vorliegende Aufnahme, eingespielt von The London Steve Reich Ensemble mit seinem Leiter Kevin Griffiths mag dafür im besten Sinne als exemplarisch gelten. In der Tat wird man «Triple Quartet» (1998) mit seinen drei Sätzen, die, schlicht mit «Movement I-III» überschrieben, formal ganz klassisch in der Reihenfolge schnell-langsam-schnell angelegt sind, so bald nicht wieder mit so viel melodiöser Grazie hören. Hier versteht man, wie nah mit dem Ohr an Bach diese Musik komponiert ist, obwohl Reich angibt, die spezifische Energie von Bartóks viertem Streichquartett sei für ihn Impuls und intellektuelle Basis der Komposition gewesen. Überdies, so Reich, enthalte die Musik Spuren seiner Beschäftigung mit den Werken Alfred Schnittkes und Michael Gordons «Yo Shakespeare». Das Besondere an der Interpretation des London Steve Reich Ensemble, hier in drei Streichquartette aufgeteilt, ist die Exaktheit, mit der diese Verkettung stilistischer Momentaufnahmen einerseits kühl analytisch betont wird, andererseits dennoch zu einem hinreißend schön irisierenden Klangemaille verschmilzt.
Dramaturgisch klug disponiert folgt darauf «Piano Counterpoint» (2011), ein neues Arrangement der Komposition «Six Pianos» (1973), für die Vincent Corver in die Partitur eingegriffen hat mit dem Ziel, die Position des Soloparts stärker zu betonen. Begleitet respektive konfrontiert wird der Pianist dabei mit bis zu zwölf Tonspuren. Ziel: Mit dem Mittel der Phasenverschiebung soll der kontrapunktische Overflow erreicht werden. Am Rande erinnert das an die «Studies for Player Piano» Conlon Nancarrows, aber nur am Rande. Denn im Vordergrund steht der rhythmische, nicht der tonale Kontrapunkt. Im Hörfokus befindet sich die Gleichzeitigkeit des ungleichzeitigen Metrums.
Neben diesen Kompositionen, in denen Reich rein ästhetisch ohne außermusikalischen Impuls oder Inhalt arbeitete, steht «Different trains» (1988) mit seinen drei Sätzen «America, Before the War», «Europe, During the War» und «After the War». Die Soundcollagen aus Zuggeräuschen, imitierendem Orchestersound sowie Sprachfetzen von Alltagstrivialität und beklemmend drastischem Textmaterial aus den Vernichtungszügen der Nazis spielt das London Steve Reich Ensemble nicht einfach als Musik, es macht daraus ganz großes Hörkino.
Annette Eckerle