Donaueschinger Musiktage 2010
Philippe Manoury: Stringendo | Brian Ferneyhough: Streichquartett Nr. 6 | Ondrej Adámek: Lo que mo' contamo' | Simon Steen-Andersen: Double up | Ivan Wyschnegradsky: Arc-en-ciel I und II | Georg Friedrich Haas: limited approximations u. a.
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4
Während die Musiktage laufen, fragt man sich als kritischer Beobachter immer wieder, welche Stücke Eintagsfliegen bleiben und welche das Format zum «Überleben» besitzen. Und in Erwartung der alljährlichen, im Folgejahr veröffentlichten CD-Chronik stellt sich für den Produzenten wie für den Hörer die Frage: Was lohnt sich festzuhalten? Erstaunlicherweise aber bringt vielleicht gerade der zeitliche Abstand eine Vertiefung beim Wiederhören: Die vier CDs der Chronik des Jahrgangs 2010 halten das Wertvolle fest und bieten den (hoffentlich vielen) Hörern, die nicht in Donaueschingen anwesend waren, nachträglich einen vorzüglichen Überblick, dessen Perspektive durchaus über den Rahmen dieses Festivals hinausreicht.
Die Donaueschinger Musiktage 2010 stellten das Streichquartett in den Mittelpunkt und luden drei renommierte Ensembles dazu ein: das Arditti Quartet, das Quatuor Diotima und das JACK Quartet, und der besondere Reiz bestand darin, das 6. Quartett von James Dillon gleich dreimal aufführen zu lassen die CD-Chronik hält alle drei Wiedergaben fest und erlaubt ein vergleichendes Hören: das Arditti zupackend, Diotima eher etwas verhalten, JACK prononciert artikulierend, und dazu Dauernunterschiede bis zu drei Minuten bei einer Gesamtdauer des Werks von etwa einer Viertelstunde. Beeindruckend ferner die Quartette von Ferneyhough und Manoury, und bei Adámek hätte man sich im Booklet gern die Übersetzung des Titels gewünscht; Spanisch ist nicht Allgemeingut wie Englisch.
Ein klangschöner Höhepunkt ist das Bassetthorn-Konzert von Marco Stroppa, während Vinko Globokar eine fast schon typische quasi-narrative Musik vorlegt. Mit Zwölfteltonklängen experimentierte schon Ivan Wyschnegradsky (1893-1979), ein Klassiker der Mikrotonalität. Und da sich Georg Friedrich Haas in seinem Konzert für sechs Klaviere im Zwölfteltonabstand und Orchester «limited approximations» ebenfalls dieser Klangwelt zuwendet, lag die Aufführung der beiden «Arc-en-ciel»-Stücke Wyschnegradskys nahe. Mit seinen merkwürdigen Quintklängen wirkt das Werk von Haas konventioneller, als es tatsächlich ist; diese Klangwelt ist immer noch gewöhnungsbedürftig (weil das Ohr klammheimlich «korrigiert»), aber reizvoll und sicherlich perspektivenreich.
Hartmut Lück