Echtzeit

Michael Jarrell: Zeitfragmente | Conlon Nancarrow: String Quartet #3 | Rolf Riehm: Tempo strozzato

Verlag/Label: Deutschlandfunk | Genuin GEN 13292
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/02 , Seite 88

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

«Slippery Slope», auch bekannt als Dammbruchargument, bezeichnet in der Rhetorik eine Argumentationsweise, die darauf abzielt, das Gegenüber von den unüberschaubaren Folgen seiner Annahmen überzeugen zu wollen. Seit Goethe gilt das geflügelte Sprichwort, ein Streichquartett sei das angeregte Gespräch unter vier vernünftigen Leuten. Die Neuerscheinung Echtzeit des Asasello-Quartetts verwebt diese beiden metaphorischen Auffassungen auf so gekonnte Art und Weise, dass man fast versucht ist, bei dieser CD von ei­nem Gesamtkunstwerk zu sprechen.
Die thematische Durchdrungenheit der Bestandteile verleiht der Veröffentlichung jedenfalls eine zwingende Konsistenz, die bereits beim essayistisch-fantastischen Booklettext beginnt: Hier sitzen vier illustre Gestalten aus griechischer Mythologie, neuerer Philosophie, Literatur und Soziologie in einem Bistro mit dem Namen «Slippery Slope» und verbringen dort zusammen ihre Mittagspause. Es handelt sich um keine Geringeren als Thallo, die griechische Göttin des Frühlings, Paul Virilio, den Geschwindigkeitstheoretiker, H. G. Wells, zuständig für dunkle Dystopien, und Marcel Proust, wie eh und je auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Aus dieser an sich bereits absurden Grundsituation entwickelt sich ein Gespräch irgendwo zwischen geniehafter Zerstreutheit und Seneca-Rezitation. Währenddessen ertönen die Stücke der CD aus dem Radio und verleihen der Narration eine wie beiläufige Gliederung.
Das Experiment gelingt – der Hörer, der zugleich Leser ist, wird in die Situation gesogen und textliche, musikalische und real verstreichende Zeit beginnen zu korrespondieren. Die Musik wiederum, die das großartige Asasello-Quartett zu Gehör bringt, gleicht mit Fug und Recht einem Dammbruch, der eine wahre Klangflut freisetzt. Michael Jarrells Zeitfragmente, eine Meditation über das Verstreichen von Zeit, verlieren sich nach einem anfänglich in wahnsinnigem Tempo tremolierenden tutti, ruppig und aufgekratzt, in verästelten Gedanken – da entgleitet jemandem in der Hitze des Gefechts der Faden und er ringt darum, ihn wiederzufinden. Zeit und Raum verdichten sich in Rolf Riehms Tempo strozzato, ei­nem mit spätromantischen Anklängen ebenso wie mit avancierten Spieltechniken agierenden Klanghybriden, der sein eigenes Programm schon im Namen trägt.
Das Highlight der CD aber ist Conlon Nancarrows String Quartet No. 3, dessen mechanischer Exaktheit das Asasello-Quartett mit einer poetischen Leichtigkeit begegnet. In drei kontrastierenden Sätzen entfaltet sich eine fluoreszierende Fülle an Klangfarben, die das sprichwörtlich «angeregte Gespräch» auf eine ganz neue Ebene transzendiert: Hier unterhalten sich nicht nur vernünftige Leute, hier kommen Entitäten zu Wort, die mit den im Booklettext auftretenden Protagonisten auf Augenhöhe sind. Asasellos Echtzeit ist in jeder Hinsicht eine Wohltat – sehr persönlich, ja eigenwillig kuratiert und in Perfektion vorgetragen.

Patrick Klingenschmitt