Diller, Axel

«Ein literarischer Komponist?»

Musikalische Strukturen in der späten Prosa Thomas Bernhards

Verlag/Label: Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2011
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/01 , Seite 91

«Meine Prosa ist immer Musik gewesen.» Gleichsam auf Nietzsches Spuren wandelnd, nimmt Axel Diller dieses Diktum Thomas Bernhards beim Wort und sucht die Geburt der Prosa des Grantlers und Österreichbeschimpfers par excellence aus dem Geiste der Musik zu belegen. Diese holde Kunst nämlich, so die Grundannahme, sei Bernhards Œuvre insgesamt als mikro- und makrostrukturelles Vorbild für die sprachliche Arbeit untilgbar eingeschrieben, nicht anders als den beiden Hauptwerken von James Joyce, «Ulysses» und «Finnegans Wake».
Insbesondere die späten Prosawerke «Der Untergeher» (1983) und «Alte Meister» (1985) stellen nach Axel Diller eine Fundgrube für Gestaltungselemente dar, denen sich die musikalische Qualität der Texte verdankt. Ihnen sind zwei profunde Einzelanalysen gewidmet, die in zum Teil recht couragierter Analogiebildung jene Ingredienzien zutage fördern, die die Texte musikalisch aufladen oder – frei nach Eichendorff – zu singen anheben lassen, «triffst du nur das Zauberwort». Diller hat es im Strukturbegriff gefunden, aus dem er nahezu alle methodischen Prozeduren ableitet. So stellt er zum Beispiel strukturelle Übereinstimmungen der Anfänge von Prosawerken mit dem Beginn der in ihren Eröffnungssätzen erwähnten Mu­sikstücke fest. In den einleitenden Absätzen von «Der Untergeher» etwa sieht Diller «durch eine entsprechende Zeichensetzung bzw. syntaktische Struktur» das 4-mal-4-Schema der ersten 16 Takte aus Bachs «Goldberg-Variationen» wie auch der ersten 16 Takte des «Contrapunctus I» aus der «Kunst der Fuge» abgebildet.
Bernhards Texte seien vielfach von Wiederholungsstrukturen geprägt, de­nen sich die eminent rhythmische Qualität seiner Sprache verdankt. Werkgenetisch knüpft solche «Repetition von Motiven» nach Diller an Beethoven an, während das Vorbild für die Kombination von Haupt- und Nebenmotiven bei Mozart zu finden sei. Wieder ein anderes Prinzip der Werkgenerierung sieht Diller in der kontrapunktischen Struktur des «verbum contra verbum», d. h. der Konfrontierung eines Motivs mit einem Kontra-Motiv, wodurch Bernhard «die Gleichzeitigkeit der Mu­sik in das Nacheinander der Literatur» überführe. In der (gelegentlichen) knappen Vorwegnahme des thematischen Materials einer Erzählung könne das «Als ob» eines exponierten und dann vielfach abgewandelten Themas einer Variation gesehen werden.
Erscheint die Deutung der Allite­ration im ersten Satz des «Untergehers» («Auch Glenn Gould …») als Anspielung auf die Tonrepetition g’’ – g’’, mit der die «Goldberg-Variationen» beginnen, allzu kühn, so offeriert die im Fachbereich Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften der Universität Siegen entstandene Arbeit in summa doch eine Fülle plausibler Einblicke in das vielfarbige Beziehungsgeflecht von Literatur und Musik im Œuvre eines der großen Unbequemen wie Unverzichtbaren. Sie sind eingebettet in einen informativen Rapport zum Stand der Bernhard-Forschung sub specie musicae und eine Verortung der Ergebnisse im literaturgeschichtlichen Kontext. Bleibt zu wünschen, dass der Band trotz des stattlichen Preises seine Leser findet.

Peter Becker