Roth, Matthias
Ein Rangierbahnhof der Moderne
Der Komponist Wolfgang Fortner und sein Schülerkreis 1931-1986: Erinnerungen, Dokumente, Hintergründe, Porträts
Für die Neue Musik, die Wolfgang Fortner nach 1945 vermittelte, bildeten die Folien der Tradition eine Orientierung die der Wiener Schule ebenso wie die kontrapunktischer Satztechniken. Den kaum übersehbaren Kreis der Fortner-Schüler hat nun Matthias Roth in einem minutiös recherchierten Band aufgearbeitet, dessen sieben Kapitel sowohl Fortners Lebens- und Arbeitsstationen gelten, in Heidelberg, bei den Kranichsteiner bzw. Internationalen Ferienkursen, die Fortner 1946 in Darmstadt mitbegründet hatte, als auch den Schülern, die er in Detmold 1954-57, in Freiburg im Breisgau 1957-73 und zuletzt wiederum in Heidelberg unterrichtete. Stets präsentiert Roth unbekanntes Material, beispielsweise einen Briefwechsel Fortners mit Lyonel Feininger um dessen Sohn Laurence, der 1932 bei Fortner studierte. Gerade noch rechtzeitig ist es gelungen, die Aussagen von Zeitzeugen zu sammeln, so dass hier ein unverzichtbarer Quellenband zur Geschichte der neuen Musik aus Erinnerungen und Porträts ihrer Protagonisten entstanden ist.
Roths Ausführungen beginnen im Jahr 1931 mit Fortners Dozentur am Kirchenmusikalischen Institut in Heidelberg. Fortner, der Kirche und Partei mit brauchbarer Musik versorgte, trat 1941 der NSDAP bei. Die Kriegsjahre verbrachte er in bescheidenen Verhältnissen lehrend, als Dirigent des Heidelberger Kammerorchesters aber auch auf attraktiven Reisen «im Rahmen kultureller Frontbetreuung (vom Nordkap bis nach Kreta)» (S. 41). In der unmittelbaren Nachkriegszeit dehnte Fortner seine Lehrtätigkeit zur Neuen Musik hin aus. Wie er unterrichtete, kann aus den Berichten von mehr als neunzig Schülern herausgelesen werden.
Zu seinem Schülerkreis zählten Klaus Martin Ziegler, Henze, Engelmann, Hans Peter Haller, Richard Rudolf Klein, Günther Becker, Heinz-Werner Zimmermann, Rudolf Kelterborn, Peter Westergaard, Friedhelm Döhl, Hans Zender, Milko Kelemen, Rolf Riehm, Arghyris Kounadis, Roland Moser, Graciela Paraskevaídis, Manfred Stahnke, Robert HP Platz u. v. a. Für Hans Wollschläger (1955-57) spielte Fortner «eher die Rolle des Kollegen [
] als die des Lehrers» (S. 222). Für Rolf Riehm (1958-60) erschienen die Analyse-Vorlesungen als «Sternstunden»: «Was er da an differenzierter Kenntnis über Musik [
] offenbarte, war phänomenal» (S. 258 f.). Für Graciela Paraskevaídis (1968-71) war wesentlich, dass Fortner sie darin unterstützt habe, «ästhetisch frei zu entscheiden, welchen kompositorischen Weg ich einschlagen wollte. Von Seiten Fortners empfing ich Respekt und Achtung» (S. 282). Wolfgang Rihm, der sich 1973 noch bei Fortner immatrikulierte, vermisste Gespräche über ästhetische Fragen, die Fortners Nachfolger Klaus Huber dann geführt habe: «Er war für mich ein Praktiker, ein absolut sicherer Handwerker. Ich holte mir eben Ratschläge» (S. 311). Dass er derart grundsätzliche Diskussionen nicht führen konnte oder wollte, bezeichnet zugleich die Grenzen der zwischen Moderne und Avantgarde vermittelnden Position Fortners, die für Milko Kelemen (1958-61) gleichbedeutend war mit einem «Rangierbahnhof der jungen deutschen Musik» (S. 257).
Walter-Wolfgang Sparrer