Ruzicka, Peter

Einschreibung / Aulodie für Oboe und Kammerorchester / «… Zurücknehmen …»

Verlag/Label: Thorofon CTH 2589
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/06 , Seite 79

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Umrahmt von Mozarts Haffner-Sinfonie und Mahlers Vierter hob Christoph Eschenbach den sechsteiligen Zyk­lus Einschreibung von Peter Ruzicka 2011 mit dem NDR Sinfonieorchester aus der Taufe. Die unterschiedlich kurzen Orchesterstücke entstanden als Beitrag zum Mahler-Jahr. Eschenbach machte sich Ruzickas «zweiten Blick» auf die Klangmomente Mahlers, die sich in seine eigene Musik einschrieben, intensiv zu eigen. Sie klingen nur eben an, um sich alsbald wieder zu entfernen. Doch wirken sie untergründig fort.
Ebenso partiturkundig wie deutkräftig öffnet Peter Becker die Hörhorizonte dieses und der beiden anderen Orchesterwerke in seinem Begleittext. Wobei er ihnen einen gemeinsamen Wesenszug abmerkt, den Mahler so umschrieb: «Musik muss immer ein Sehnen enthalten, ein Sehnen über die Dinge der Welt hinaus.» Bessere Mittler als den Dirigenten Christoph Eschenbach und den Essayisten Peter Becker könnte sich der Komponist kaum wün­schen. Allein die staunend nachhorchende Art, wie Becker das vierte, mit einem moribunden Tamtam-Schlag einsetzende Stück kennzeichnet und auslegt – nämlich als virtuelle, morbide, quasi luftspiegelnde Widerwelt eines großen sinfonischen «Als-ob» (Adorno) –, sucht in der Musikpublizistik ihresgleichen.
Huldigte Ruzicka ehedem einer zarten Fragment-Ästhetik, die sich bis in die Dreipünktchen-Titel etlicher Werke entkörperte, so scheint seinen Tongestalten nun der Impuls zum Weitersprechen eingeschrieben. Statt zu zagen, gibt sich die Aulodie für Oboe und Kammerorchester – im August 2011 im Rolf-Liebermann-Studio des NDR mit Albrecht Mayer und dem Schleswig-Holstein Festival Orchester unter seiner Leitung uraufgeführt – den elegischen und faunischen, panischen und bukolischen Romanzen des Bläsers hin: Wiedergeburt der Musik aus dem Geist des Gesangs. Singend entfaltet das 16-Minuten-Stück ein Charakterspektrum des schalmeiartigen Blasinstruments aus dem alten Griechenland, das zu Hochzeit und Weinlese ebenso erklang wie zu Opferfeiern, Totenklagen, Waffentänzen und Satyrspielen. In sieben Klangszenen spürt Ruzicka seinem vieldeutigen Wesen nach. Einen würdigeren Taufpaten als den Solo-Oboisten der Berliner Philharmoniker hätte er für sein anrührendes Tongedicht nicht finden können.
Der geheimnisvolle Werktitel «…Zurücknehmen …» verweist auf den fiktiven Tonsetzer Adrian Leverkühn aus Thomas Manns Roman Doktor Faustus. Das qualvolle Sterben des fünfjährigen Neffen Nepomuk zerbricht seinen Glauben an einen «lieben Vater» über den Sternen. Mit seinem Opus ultimum Doktor Fausti Weheklag gedenkt er die humane Botschaft von Beethovens IX. Symphonie «zurückzunehmen». Erinnerung nennt Ruzicka das 2009 für die Wiener Philharmoniker geschriebene, von Christian Thielemann subtil ausgeschürfte Orchesterstück im Unter­titel. Herbeigerufen von der «Schre­ckensfanfare» aus Beethovens Finale, die Mahler im Scherzo und Finale der Zweiten aufnahm, ergibt sich ein «dreifach gebrochener Blick»: auf Beet­hovens Neunte, Doktor Fausti Weheklag und Ruzickas eigene, wieder­erinnerte Schaffenswelt.

Lutz Lesle