Emil Gilels Live in Moscow, Vol. I

Werke von Brahms, Schumann und Mendelssohn. Aufnahme von 1983

Verlag/Label: VAI 4466
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/01 , Seite 78

Emil Gilels: Konzentration auf das Wesentliche

Eine Aufnahme der klassischen Art ist der Mitschnitt eines Klavierabends mit Emil Gilels aus dem Großen Saal des Moskauer Tschaikowsky-Konservatoriums von 1983. Auf dem Programm standen die Paganini-Variationen (1. Teil) op. 35 und die Klavierstücke op. 117 von Brahms sowie die vier Stücke op. 32 und die Sinfonischen Etüden op. 13 von Schumann, dazu zwei Zugaben von Mendelssohn. Die Aufzeichnung des UdSSR-Fernsehens ist vor einiger Zeit unverändert auf einer DVD des amerikanischen Labels VAI erschienen.
Der Film versucht die Konzertsituation möglichst genau abzubilden – der Zuschauer vor dem Bildschirm soll sich wie im Konzertsaal vorkommen. Drei Kameras beobachten den Interpreten aus drei verschiedenen Publikumsperspektiven; eine vierte, die rechts auf der Bühne aufgebaut ist, ermöglicht den Blick durch den geöffneten Flügel hindurch auf das Gesicht des Interpreten. Damit wechselt die Blickrichtung während des Spiels, im Gegensatz zum Mono-Klangbild, das natürlich statisch bleibt. Die Wechsel zwischen den vier Kameraperspektiven erfolgen indes sparsam und stets synchron zu musikalischen Formabschnitten; Kamerafahrten und Schwenks gibt es nicht, nur unterschiedliche Nah- und Ferneinstellungen und vereinzelte Zooms, die aber ebenfalls sehr zurückhaltend eingesetzt sind.
Damit ergibt sich eine ruhige, vollkommen unspektakuläre Darstellung der Aufführung. Sie stimmt mit der Haltung des Interpreten überein. Der 1985 im Alter von 69 Jahren gestorbene Emil Gilels war ein Pianist alter Schule, der beim Spielen auf jedes unnötige Detail – musikalisch und gestisch – verzichtete und sich auch beim Auf- und Abtreten völlig zurücknahm. Er konzentrierte sich ganz auf die notengetreue Darstellung der Musik, die indes von einem überragenden künstlerischen Verständnis und einer stupenden Technik getragen war.
Wenn die unter aufnahmeästhetischen Gesichtpunkten anspruchslose Videoaufzeichnung trotzdem Ereignischarakter besitzt, so liegt das daran, dass sie die hoch konzentrierte Haltung des Interpreten, Ausdruck seiner unbedingten Hingabe an die Musik, optisch glaubhaft zu kommunizieren versteht. Auch noch am Bildschirm ist die Hochspannung spürbar, die Gilels im Konzertsaal zu erzeugen verstand. Die gelegentlichen falschen Noten stören da überhaupt nicht, sie lassen im Gegenteil den Zuhörer teilhaben am unkalkulierbaren Abenteuer des schöpferischen Akts, das eine lebendige Interpretation ausmacht. Somit ist diese DVD ein Produkt für Musikhörer, die gerne auch einmal eine so überragende Persönlichkeit wie Gilels bei der Arbeit beobachten möchten, die aber gelegentlich auch wegschauen können, um sich ganz auf die Musik zu konzentrieren.

Max Nyffeler