Ensemble X
X 113 / X 8 / X 112 / X 111 (Improvisationen)
Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Booklet: 4
WIO, LIO, RIO in Zeiten der Orchesterkürzungen und Zusammenlegung von klassischen Sinfonieorchestern scheinen sie seit einigen Jahren wie Pilze aus dem Boden zu sprießen: improvisierende Orchester. Ein neues Phänomen ist dies gewiss nicht, gab und gibt es doch seit den 1970er Jahren zum Teil bis heute existierende improvisierende Großensembles, die schon in den Frühzeiten der so genannten frei improvisierten Musik den Gedanken einer größeren Instrumental-Besetzung, sei es das klassische Orchester, sei es die Jazzbigband, in der eigenen Disziplin neu zu befragen suchten.
Die Ansätze waren so verschieden wie die ästhetischen Positionen und soziokulturellen Eigenverortungen im Spannungsfeld der Idee einer «freien» Improvisation selbst. Von stilistischen Unterschieden abgesehen reichte die Spannweite von Anarchie (z. B. Scratch Orchestra) über partiell fixierte Kompositionen (z. B. Globe Unity, London Jazz Composers Orchestra) bis hin zu dirigierter Improvisation (Lawrence Butch Morris und London Improvisers Orchestra). Heute ist eine ähnliche Vielfalt zu beobachten. Das WIO ebenso wie das VIO das Wuppertaler und das Vienna Improvisers Orchestra etwa arbeiten mit verschiedenen Dirigierzeichen, das James Chioce Orchestra aus Köln spielt speziell für die Musiker komponierte Werke, ÖNCZkekvist, SPLITTER und andere Orchester erproben die freie Improvisation ohne Vorgaben um jeweils nur Beispiele anzudeuten. Auch das seit 2008 bestehende Ensemble X hat sich dem Spiel ohne Vorgaben und ohne Zeichengebung verschrieben. Der Tubist Carl Ludwig Hübsch ist erfahren im Spiel in Großensembles, ist er doch einer der Leiter des James Choice Orchestra, in dem Improvisierende vereint sind, die ebenso versiert sind im Spiel nach Noten wie sie frei zu improvisieren vermögen. Das Ensemble spielt Stücke, die für diese Besetzung geschrieben werden. Es ist ein Langzeitprojekt dahingehend, verschiedene Möglichkeiten zwischen Freiraum und Fixierung zu untersuchen.
Ganz anders sollte das neue Ensemble X werden. Es sollte frei improvisiert werden. Doch eines wollte Carl Ludwig Hübsch vermeiden, nämlich dass typische Entwicklungen entstehen, die nur allzu oft in der Dynamik frei improvisierender Musiker zu beobachten sind: dynamische, gestische Wellenbewegungen, Abfolgen von dichten und ausgedünnten Passagen, herausstechende Soli, mäandernde Klangflächen. Carl Ludwig Hübsch wählte gezielt Musikerinnen und Musiker, von denen viele schon in wechselnden Besetzungen miteinander musiziert hatten. Solche, die auch Erfahrung haben in der Improvisation in größeren Gruppierungen: Improvisierende aus der Schweiz, aus dem Raum Köln, aus der hessischen Improvisationsszene.
Das klangliche Ergebnis evoziert ein Metainstrument. Die Musik ist dicht, kompakt, sehr präsent. Und dies unabhängig von der jeweiligen Dynamik oder Textur, ob flächig oder mit punktuellen Einsprengseln. Man kann es kaum besser beschreiben, als es Carl Ludwig Hübsch in seinen Liner Notes selbst tut. Er wollte kein Ensemble mit Solisten. Vielmehr sieht er jede Musikerin und jeden Musiker als Teil des Ensemblegehirns. Zu hören wären dann entsprechend Verschaltungen im Gehirn. Subtile Vernetzungen, auch Kommunikation, Interaktion, aber innerhalb feinstofflicher Mikrostrukturen.
Nina Polaschegg