Reynolds, Roger

Epigram and Evolution – Complete Piano Works

Verlag/Label: mode 212/13, 2 CDs
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/01 , Seite 82

Musikalische Wertung: 3
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 5
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

 

Die auf der Doppel-CD Complete Piano Works enthaltenen Werke für Klavier mit und ohne andere Instrumente geben einen Überblick über das Schaffen des 1934 in Detroit geborenen amerikanischen Komponisten. Obwohl die vorgestellten Stücke einen Zeitraum von beinahe vierzig Jahren umfassen, zeigt sich eine deutliche Konsistenz in ihrer Tonsprache.
Das 1961 von Robert Ashley uraufgeführte Epigram and Evolution, eines von Roger Reynolds’ frühen Kla­vierwerken, trägt noch deutlich die expressive Rastlosigkeit einer atonalen nach-nach-Webern’schen Ästhetik. Explosive Gesten und abrupte Verdichtungen des Tonmaterials wechseln ab mit einem Zerfall in spärliche Linien. Noch ungestümer beginnt die vier Jahre später entstandene Fantasy for Pianist: mit einem heftigen, wirbelnden Ausbruch. Das fast dreißigminütige Stück Variation von 1988 erweist sich ebenso als ein unruhiges, durchgehend komplexes Gewebe, dessen grafische Partitur unter Zuhilfenahme algorithmischer Systematiken angefertigt wurde. Die beiden jüngsten Komposition imagE/ piano und imAge/piano aus dem Jahr 2007 rekombinieren Bestandteile aus den früheren Stücken Epigram and Evolution und Variation mittels Montageverfahren bzw. Aggregaten aus festgelegten Tonhöhen und Akkord-Schichtungen, die zu ornamentalen Ausdifferenzierungen überleiten.
Reynolds’ Werke auf der zweiten CD, die das Klavier in einer instrumen­talen und/oder elektronischen Um­gebung darstellen, kennzeichnen eine ähnlich dissonante Anspannung. Ballungen und Ausbrüche, die in spannungsgeladene Unerlöstheit zurücksinken, sich überlappen und atmosphärisch in eine unbenennbare Sphäre ausschwingen, bestimmen das Stück Traces für Klavier, Flöte, Cello und Elektronik aus dem Jahr 1968.
Die Komposition Less than Two für zwei Klaviere und zwei Perkussionisten, die von Ferne an Béla Bartóks berühmte Sonate mit identischer Instrumentation erinnert, fügt jeweils zwei musizierende Paare zusammen, die miteinander in fortspinnender oder komplementärer Weise agieren. Bezogen sind diese auch auf einen unterschiedlich ausschwingenden elektronischen Grund-Sound, der zusätzliche Spannung erzeugt.
Dramaturgisch noch tiefgreifender erweist sich The Angel of Death von 1998-2001, ein Stück für Klavier, Kammerorchester und computer processed sounds. Instrumental werden fünf verschieden Themen entwickelt, die psychologischen Zuständen zu entsprechen scheinen. In der Klangsprache dieses Spätwerks haben sich neoklassizistische Anmutungen und Ornamente angesiedelt, die schließlich in eine geisterhafte Atmosphäre von glissandierend-nebulösen Strömen abtauchen. Suggeriert wird das Absteigen in ein andere Welt der Erscheinungen. Ob in dieser Welt Erlösung zu finden ist oder nur ein weitere Ebene der Unruhe, die letztlich aus einer verdrängten und verborgenen Natur des Menschen aufscheint, bleibt fraglich.

Thomas Groetz