Schönberg, Arnold
Erwartung. Monodram, op. 17
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 5
Sie zählt zu den Pioniertaten der ersten WERGO-Jahre: Hermann Scherchens 1960 entstandene Aufnahme von Schönbergs Monodram «Erwartung» mit Helga Pilarczyk. Die Einspielung gehörte zum «geistigen Startkapital» (Lutz Lesle) des 1962 gegründeten Labels. Jetzt ist sie, zum 50. WERGO-Jubiläum 2012, auf CD erschienen auf den neuesten technischen Stand gebracht, in einer optimalen Klangqualität, für die der renommierte Tonmeister Ingo Schmidt-Lucas verantwortlich zeichnet. Die Wiederveröffentlichung zeigt, dass die Interpretation der damals führenden Schönberg-Sängerin Helga Pilarczyk (1925-2011) noch heute Bestand hat und das im prominenten Umfeld späterer Einspielungen etwa von Anja Silja (1979) und Jessye Norman (1989).
Gleich vorweg: Der spezifische Reiz dieser exzellent restaurierten Aufnahme mit Helga Pilarczyk liegt in dem funktionierenden Miteinander von sachlich-präzisem Zugriff und hoch expressionistischem Sujet. Denn das Monodram «Erwartung» (1909 entstanden, 1924 uraufgeführt) erzählt laut Schönberg nichts anderes als einen «Angsttraum»: Eine Frau sucht ihren Geliebten und irrt dabei durch die Spukwelt einer nächtlichen, mondbeschienenen Waldszenerie, bis sie ihn ermordet auffindet und mit dem Toten ein Zwiegespräch führt. Das Libretto stammt von der jungen Ärztin Marie Pappenheim («Ich habe immer exaltiert geschrieben»); der von ihr thematisierte Zerfall der Sprache korreliert mit Schönbergs freier Atonalität.
Helga Pilarczyk zeichnet mit schlankem, fein timbriertem Sopran und mit geradezu seismografischer Genauigkeit die fein verästelten psychischen Schwankungen dieser Frau nach zwischen Verzweiflung und Verzückung, Depression und Euphorie. Zum Projektionsraum des Unter- und Unbewussten wird der Wald, in dessen Gespenstern sich die Seelendramen der Frau spiegeln. Pilarczyk, in den 1960er Jahren von der Scala bis an die Met als «Zwölfton-Primadonna» gefeiert, protokolliert diese Erregungskurven feinnervig und fiebrig, ohne schweres, lastendes Menschheits-Pathos. Zitternd, wild, zärtlich nachdenkend, mit furchtbarem Schrei, flüsternd, fast jauchzend, in rasender Angst: Die Partitur ist übersät mit derlei Stimmungsausschlägen, und Helga Pilarczyk gelingt es, die aufgepeitschten, zentrifugalen Gefühlswerte zu einem beseelten, beklemmenden Psychogramm zusammenzufügen.
Erstaunlich auch, wie trennscharf die Aufnahme wirkt. Die Nordwestdeutsche Philharmonie Herford unter ihrem Chefdirigenten Hermann Scherchen (der 1912 mit Schönberg die Uraufführung des «Pierrot lunaire» vorbereitet hatte) entwickelt in Mammutbesetzung eine beeindruckende Transparenz. Scherchen lässt die irrlichternde Sinnlichkeit dieser Musik aufleuchten vom zart gedämpften Streicherhauch bis hin zu bedrohlichen Alptraum-Crescendi. So entsteht ein filigranes, extrem expressives Gewebe zwischen nächtlichem Schauder und schwerelosem Sehnen: eine gelungene, sorgsam restaurierte Wiederveröffentlichung, gestaltet im zeitlos-sachlichen Design des originalen LP-Covers und zusätzlich aufgewertet durch einen lesenswerten Aufsatz des Kölner Musikologen Helmut Kirchmeyer.
Otto Paul Burkhardt