Kreuzer, Stefanie (Hg.)

Experimente in den Künsten

Transmediale Erkundungen in Literatur, Theater, Film und bildender Kunst

Verlag/Label: [transcript], Bielefeld 2012, 426 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/06 , Seite 93

«Die Wahrheit der Kunst verhindert, dass die Wissenschaft unmenschlich wird, und die Wahrheit der Wissenschaften verhindert, dass die Kunst sich lächerlich macht.» Raymond Chandler hat mit diesem Diktum auf die divergenten Haltungen reagiert, die den Diskurs über das Verhältnis der beiden hoch ausdifferenzierten kulturellen Sys­teme Kunst und Wissenschaft seit dem Altertum immer wieder aufgeheizt ha­ben. Der vorliegende Band beschreibt 13 Arten, den Dampf aus dem Kessel zu lassen. Dabei wird die vermeintlich paradoxe Titelgebung dem Leser nicht zum Stolperstein in unwegsamem Gelände; sie erweist sich vielmehr – fünffach buchstabiert in den Segmenten Literatur, Theater, Film, Musik und bildender Kunst – als ein Wegweiser zu jenen Übergängen, an denen die starren Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft durchlässig werden.
Der sorgfältig edierte Band wird
eröffnet mit einem transdisziplinären Überblick über Experimentalkulturen in Literatur und Wissenschaften (Michael Gamper) und einem fundierten Exkurs zu «Essayismus und Experimentalismus bei Robert Musil» (Birgit Nübel). Den kategorischen Konjunktiv, der Musils «Möglichkeitssinn» eingeschrieben ist, kontrapunktieren die radikalen Erfahrungsexperimente der Brecht’schen Lehrstücke, thematisiert von Florian Vaßen und Patrick Primavesi, während Ole Hruschka «Kalkulierte Spielräume» im universitären Theaterlabor ausleuchtet.
Im Rückgriff auf Walter Benjamins Begriff des «Optisch-Unbewussten» untersucht Andreas Becker filmische Experimente mit Zeitdehnung. Stefanie Kreuzer verortet Christopher Noams Film Memento als «Erzählexperiment zwischen filmischer Darstellung und pathologischem Befund». Die Frage nach der Aktualität der Filmästhetik von Hans-Jürgen Syberberg findet eine Antwort im Beitrag von Bernd Kiefer: Sie liegt im Experiment einer Verbindung von Kunst und Leben.
Inwiefern lässt sich das Zusammenspiel von Bild und Ton, Hören und Sehen als Wahrnehmungsexperiment eigener Art auffassen? Nina Noeske versichert sich bei ihrer Antwort des Beistands von Siegfried Kracauer, dessen Erinnerung an den liebenswerten, aber eben «betrunkenen Klavierspieler» neben der Stummfilmleinwand sich als ebenso theoriefähig erweist wie der Nachweis musikalischer Strukturen in Amy Lowells imagistischer Lyrik, den Regina Schober erbringt.
Eva Koethen reflektiert Gemeinsamkeiten und Differenzen von experimentellen Verfahrensweisen in der bildenden Kunst und den (Natur)-Wissenschaften, Christian Spies geht dem furor experimentalis monochromer Gemälde nach, und Christiane Heibach lotet multimediale Sprachkunstexperimente im Spannungsfeld zwischen Sinn und Sinnlichkeit aus. Dass wir mit ihren Worten «erst am Anfang einer Kategorien überschreitenden und interdisziplinären Epistemologie» stehen, liest sich im Hermann Hesse-Jahr 2012 wie eine Verheißung. Denn in der Tat: Auch dem Anfang, den dieser vielperspektivische Band macht, wohnt ein Zauber inne. Man sollte sich ihn nicht entgehen lassen.

Peter Becker