Flying to the Chinese Moon

Arrangements zu Melodien aus der traditionellen chinesischen Musik

Verlag/Label: Organum classics OGM 121040
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/06 , Seite 86

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Chéng Nónghuà galt als einer der großen Meister der Èrhú. Ausdruck seiner Meisterschaft war auch seine Offenheit für die westliche Musiktradition. Sie sollte er spät für sich entdecken, als ihn die Musiker des Wiener Xenos Quartetts baten, mit ihnen in den Dialog einzutreten. Es heißt, Chéng Nónghuà habe dies mit Demut und Respekt gegenüber der westlichen Art des Musizierens getan. Seine Vorfreude auf die Veröffentlichung des vorliegenden Albums soll groß gewesen sein. Chéng Nónghuà starb jedoch wenige Tage zuvor an den Folgen eines Schlaganfalls.
So ist diese CD nicht nur Dokument einer in vielerlei Hinsicht geglückten ersten musikalischen Begegnung zweier nicht einmal im Ansatz verwandter musikalischer Welten. Flying to the Chinese Moon kann auch als Vermächtnis begriffen werden, als Aufforderung, erst gar keine Rezeptionsschubladen einzurichten, am allerwenigsten jene mit der Aufschrift «East meets West». Denn zu schnell würde dabei das Assoziationsfeld namens Weltmusik betreten, zu schnell die Ohren darauf ausgerichtet werden, folkloristisch eingefärbten Belanglosigkeiten zu lauschen.
Flying to the Chinese Moon ist zunächst einmal der Titel eines uralten chinesischen Märchens. Darin heißt es, die Sonne habe ihre Position als stärkste Kraft des Universums mit wahrer Unerbittlichkeit ausgeübt, so lange, bis ein tapferer Schütze namens Hòuyì sie mit einem Pfeil getroffen und so für den Mond die Herrschaft über die Nacht errungen habe. Hòuyì wurde dafür von den Göttern mit einem Unsterblichkeitselixier belohnt. Dieses wiederum sollte von Hòuyìs Ehefrau bis zur Neige gekostet werden. Dafür, so die Legende, sei sie unsterblich geworden, allerdings zur Strafe verbannt auf den Mond, ohne Familie und Freunde.
Diese Erzählung, respektive ihr schriftliches Abbild, wurde in dem zent­ralen Zyklus Y`ü’er Gao («How High the Chinese Moon», trad.) nun auf der vorliegenden CD von Chéng Nónghuà und dem Xenos Quartett gewissermaßen als eine Folge impressionistischer Miniaturen mit traditioneller chinesischer Grundierung in Szene gesetzt, konfrontiert, bisweilen aber auch mit westlichen Klangmustern überschrieben, ohne dabei jedoch das Original strukturell und also in seinem eigenen Charakter zu beschädigen. Das Xenos Quartett übt sich hier wie auch bei den anderen Miniaturklanggeschichten darin, den rhythmisch präzisen Bordun zu den klangsprachlichen Melodien von Chéng Nónghuà zu liefern, ein wenig nur mit dem Ohr am Puls dieses mal feinen, ja fast fragilen und mal mit fettem Pinsel gezeichneten Klangstroms.
Die Kehrseite dieses bikulturellen Dialogs lässt sich an «Impression I» und «Impression II» ablesen, jenen improvisierten Soli, in denen Chéng Nónghuà versuchte, die rhythmische Präzision nach westlichem Verständnis in sein Spiel aufzunehmen, ohne dabei seine gewohnte Freiheit im Umgang mit der musikalischen Erzählzeit aufzugeben. Dass diese respektvolle künstlerische Begegnung so abrupt zu Ende ging, kaum dass sie begonnen hatte, ist bedauerlich angesichts so vieler eher flacher interkultureller Musikexperimente.

Annette Eckerle