Wolff, Christian
For Piano I / For Pianist / Burdocks
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 3
Booklet: 3
Das Stück For Piano I komponierte Christian Wolff für David Tudor. Hinsichtlich der Virtuosität des Klavierspielers verwundert es nicht, dass die Komposition sehr hohe Ansprüche an den Interpreten stellt. An einer bestimmten Stelle verlangt Wolff, einen Akkord zu spielen, der sich über mehrere Oktaven erstreckt und dessen einzelne Töne in divergierenden Tonlängen und Dynamiken wiedergegeben werden müssen: ein beinahe unmögliches Unterfangen, für Tudor aber kein Problem.
Die 1959 entstandene Komposition For Pianist lässt sich als eine Reaktion auf das ein Jahr zuvor fertiggestellte Duo For Pianists II verstehen. Letzteres besteht aus 15 Segmenten. Sie enthalten genaueste Anweisungen für Handlungen, die unter den freiesten Bedingungen auszuführen sind. Die Fortbewegung innerhalb der Sektionen resultiert aus den Aktionen der Spieler, konkret: Hört der Instrumentalist einen Ton, der von seinem Partner zum Beispiel in einer bestimmten Artikulation gespielt wird, muss er zu dem Abschnitt springen, der mit dieser Artikulation markiert ist. Dort kann er dann aus weiteren Möglichkeiten wählen, die wiederum das Spiel seines Kollegen beeinflussen. Es ist unmöglich für die Spieler vorherzusehen, was der andere machen wird. Genaues Hinhören gestaltet somit die Komposition, die bei jeder Aufführung eine neue Form annimmt.
In For Pianist überträgt Christian Wolff diese Situation auf ein Solo-Setting. Damit der Solist das Stück nicht im Vorhinein ausarbeitet, baut der Komponist Elemente in die Partitur ein, die den Spieler in unvorhersehbare Situationen katapultieren. Eine Reaktion auf David Tudor, der Kompositionen vor jeder Aufführung akribisch auszuarbeiten pflegte. Wolff verlangt vom Pianisten, eine Passage so leise wie möglich zu spielen oder sehr schnell von einem ganz tiefen zu einem ganz hohen Ton zu springen. Aus dieser Handlung können drei unterschiedliche Szenarien entstehen. Der Spieler trifft den Ton, er greift zu hoch oder zu tief. Für jeden Ausgang konzipiert Wolff eine andere Fortsetzung. Der Spieler kann so unmöglich erraten, was er als nächstes tun wird. In der vorliegenden Aufnahme aus dem Jahre 1971 interpretiert Frederic Rzewski, ein enger Freund von Wolff, das Stück. Auffällig an For Pianist sind die vielen Pausen. Sie entstehen aus den Reflexionen des Spielers und legen gleichzeitig die einzelnen Klänge frei. Jedem Ereignis wird genügend Raum zur Entfaltung gegeben. Daraus resultieren auch interessante rhythmische Konstellationen, die innerhalb einer konventionellen Notation und spielerischen Ausarbeitung nicht möglich gewesen wären.
Burdocks heißt zu Deutsch «Kletten». Es ist Wolffs erste Arbeit für ein großes Ensemble. Das Stück versammelt zehn heterogene Teile, die entweder hintereinander oder überlappend gespielt werden können. Mit von der Partie sind u. a. David Behrman, Gordon Mumma oder Frederic Rzewski. Ihre Interpretation ist sehr konzentriert. Die Musiker verweben das spröde Klangmaterial zu interessanten musikalischen Ereignissen, die immer klar und nachvollziehbar bleiben. Kein Ton ist zu viel. Am schönsten ist der sechste Abschnitt, «Melodie und Begleitung». Es ertönt eine seltsame Melodie, die diversen Permutationen ausgesetzt ist. Die Spieler greifen Teile von ihr auf, legen neue Nuancen frei und transformieren sie damit immer wieder in neue Kontexte. Bezaubernd.
Raphael Smarzoch