Flammer, Ernst Helmuth (Hg.)

Fortschritt – was ist das …?

Verlag/Label: Wolke, Hofheim 2014, 528 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/05 , Seite 92

Seit Ernst Topitsch den Begriff der Leerformel als eines frei verfügbaren, beliebig manipulierbaren Instruments eingeführt hat, steht auch die Rede vom Fortschritt unter Generalverdacht. Der allerdings kann, wie das vorliegende Konvolut von 29 theoretischen, analytischen und essayistischen Beiträgen einer Ringvorlesung in neun Kapiteln eindrucksvoll belegt, weitgehend entkräftet werden. Mit interdisziplinärer Verve unternehmen es 15 Autoren, den zum Reiz- und Schlagwort verkommenen Begriff kritisch zu hinterfragen und das Koordinatensystem, in dem seine Richtung und Reichweite auszumachen wäre, neu zu vermessen.
Georg Katzers treffliche Diagnose «Mit einem Apfel fing alles an» verweist auf den nicht ganz risikofreien Zuwachs an Erkenntnis, durch den sich Fortschritt über lange Zeit definiert hat. Dass er sich auch als Bekenntnis zu artikulieren vermag, hat Ernst Helmuth Flammer in seiner subtilen Deutung des Adagios der IX. Symphonie von Anton Bruckner aufgewiesen. Form imaginiert hier Offenheit ins Transzendente, Durchbruch und Aufbruch zu einer langen Wanderschaft, die ihr irdisches Pendant im harmonischen Fortschreiten bis an die Grenzen der Atonalität hat: Bruckner, der Fortschrittliche. Flammers insgesamt 13 Beiträge sind Exempel kritischen Reflektierens, das den Fortschritt als Paradoxie und als «Dunkle Materie» ebenso thematisiert wie seine Einlösung, aber auch den Verrat an ihm in Partituren renommierter Zeitgenossen.
Michael Quell weist die Ambiguität des Fortschritts bei Ligeti auf, nach Lydia Weißgerber haftet dem Begriff seit der Postmoderne eine Definition ex negativo an, Roland Schaffner und Hakan Ulus elaborieren Interkulturalität als einen Fortschrittskatalysator, der dem Bündnis von Sinn und Sinnlichkeit und einer neuen Musikentwicklung förderlich sei. Mit seinem Plädoyer für eine nichtempirische phänomenologische Musikpädagogik kritisiert Wolfgang Lessing den latenten Ideologiegehalt vermeintlich fortschrittlicher neurobiologischer Erkenntnisse, während Tobias Eduard Schick in kritischer Absetzung von Harry Lehmann für einen ästhetischen Fortschritt votiert, dessen Offenheit «sich bewusst auf den Spagat einlässt, ein Sinnangebot zu machen und gleichzeitig zu wissen, dass es nichts gibt, was dessen Sinn a priori garantiert.»
Wie die Erschließung und Aktualisierung eines Sinnangebots gelingen, aber auch wie sie scheitern kann, ist Gegenstand von Günther Schwarzes faszinierender Studie über Schuberts Winterreise und deren Reflexion bei Reiner Bredemeyer und Hans Zender. Wie hier, so sind die meisten der Beiträge an konkreten Werken orientiert, deren profunde Analysen und originäre Deutungen die Titelfrage des Bandes mit immer neuen Schattierungen beantworten. Dass dabei die Richtung des Fortschritts auch als ein Weg nach innen bestimmt wird, gehört zum Proprium dieser gewichtigen Publikation, die damit in der unübersehbaren Flut der Fortschrittsliteratur selbst einen Fortschritt markiert. Künftige Verlautbarungen zu diesem komplexen Begriff werden nicht hinter die hier vermittelten Einsichten zurückfallen dürfen.

Peter Becker