Ullmann, Jakob

Fremde Zeit Addendum

Disappearing musics / solo I + II + III / komposition für streichquartett 2 / PRAHA: celetná – karlova – maiselova (3 CDs)

Verlag/Label: Edition RZ 1026-28 3 CD
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/06 , Seite 89

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 4

Die Musik von Jakob Ullmann ist leise. Oft bewegt sie sich an der Grenze zur Unhörbarkeit. Ullmanns Musik will den offenen und aufmerksamen, den freien Hörer, den Hörer, der frei von Dogmen Kunst rezipiert. Für jene, die nicht hören wollen, bleibt Ullmanns Musik eben verschlossen, punktum.
Diese Unbedingtheit, diese Integrität ist hart erkämpft. Jakob Ullmann, geboren 1958 im sächsischen Freiberg, sah sich als Wehrdienstverweigerer 1976 in der damaligen DDR den üblichen Repressalien ausgesetzt. Wegen «Gründung einer staatsfeindlichen Organisation» wurde er vom kommunistischen Regime angeklagt, wegen «asozialen Verhaltens» und «öffentlicher Herabwürdigung». Nach jahrelangem Überlebenskampf, unter anderem als Hausmeister, Heizer, Güterbeweger und Anstreicher, studierte Ullmann dennoch von 1979 bis 1982 Kirchenmusik. Als Kirchenmusiker erhielt er wiederum keine Anstellung – offizielle Begründung: «mangelnde Musikalität» und «fehlende Eignung zum Dienst in der Kirchengemeinde». Als Komponist ließ sich Ullmann daher privat bei Friedrich Goldmann in Berlin ausbilden. Als Mitglied im Komponistenverband, Sektion Berlin, sollte Ullmann dann immerhin einen offiziellen Status erlangen. Dennoch: Als Komponist und Autor war Ullmann zu DDR-Zeiten ausschließlich in Samisdat-Publikationen präsent, seine leise Musik war den Politbetonköpfen ihrer ideologisch querständigen Art wegen zu laut.
Die Musiken auf den vorliegenden drei CDs sind zwar allesamt nach der «Wende» entstanden, sind aber konsequente Fortschreibungen der Ästhetik des Ullmann’schen Werks aus der Vorwendezeit. In disappearing mu­sics. For six players (mor or less) (1989-91) thematisiert er seine kompositorische Haltung in einer Partitur der größtmög­lichen gelenkten Freiheit, nahe an John Cage, dessen Klang- und Notations­ästhetik Ullmann vor dem Hintergrund der abendländischen Musikgeschichte in seinen Personalstil übersetzt hat. So gesehen sind die Stücke solo I + II + III (1992/1993/2010) für Oboe da caccia, Fagott und Orgel eine Replik auf die Art und Weise, in der Cage reale und musikalische Zeit in eins gesetzt hat. Die Solo-Stücke von Ullmann lassen dem Hörer viel Zeit, sie verlangen aber auch, dass er ihnen Zeit gibt, Zeit zum hörenden Ertasten dieser so fragilen, aber doch auf eigentümliche Weise taktilen Musik. Mit eben diesem Sinn fürs Taktile ist auch die komposition für streichquartett 2 mit absichtsvoller Absicht­losigkeit fakturiert. Formgebend sind die Übergänge von Geräuschhaftem hin zum Ton. Die Mu­sik? Frei von Botschaft, jedoch unter der Last der Gattungsgeschichte bezaubernd schön ächzend.
Bei PRAHA: celetná – karlova – maiselova (2004-2007) liegen die Dinge komplizierter, formal wie inhaltlich. Als Radio-Oper angedacht nach der Erzählung Das geheime Wunder von Borges und schließlich zum Konzertstück umgearbeitet, transportiert diese Musik eine Kompilation literarischer und historischer Texte, Sequenzen aus Weisheitsbüchern, Psalmentexte, Texte über die Prager Opfer der Schoah. Dass all dies von Ullmann in einem komplizierten Plan von Zeitangaben, Festlegungen von Proportionen notiert ist, dass Tonhöhen in phytagoreischen Brüchen aufgezeichnet sind, ist keine virtuose Spielerei, sondern intrikat angelegtes Spiel mit dem aller Zeit entrückten Ewigkeitsbegriff.    

Annette Eckerle