Kontressowitz, Reiner
Fünf Annäherungen zu den Solokonzerten von Friedrich Goldmann
Der 2009 verstorbene Friedrich Goldmann erlebte zwar merkwürdigerweise keine Aufführung eines seiner Werke in Donaueschingen, erfährt aber nun mit dem vorliegenden Buch eine grundlegende Studie zu seinem kompositorischen Schaffen. Dabei beschränkt sich der Autor Reiner Kontressowitz keineswegs auf Form- und Materialanalysen, sondern versteht die hier verhandelten Solokonzerte Goldmanns für Posaune, Violine, Oboe bzw. Klavier darüber hinaus als Abbilder gedachter gruppendynamischer Prozesse. Zu dieser inhärenten Thematik hat sich nicht nur Goldmann selbst geäußert, sondern der Autor schließt dies auch aus Goldmanns Bibliothek, in der sich entsprechende soziologische Standardwerke von Niklas Luhmann und anderen befanden. Wenn Kontressowitz nun seine hochdifferenzierten Formanalysen immer wieder auf Konstellationen zwischen Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft bezieht, so erscheint dies nicht nur interessant, sondern auch schlüssig, jedenfalls sehr viel präziser als die bloße Behauptung eines Zusammenhangs zwischen Kunst und Gesellschaft; und dies, auch wenn man nicht alle Folgerungen akzeptieren muss und der Autor selbst gelegentlich von Mutmaßungen spricht. Die im Verlauf der einzelnen Werke unterschiedlichen strukturellen Beziehungen zwischen dem Solisten als «Individuum» und der Orchester- oder Ensemble-«Masse» erhalten dadurch einen semantischen Hintergrund, der dem Hören bzw. Lesen der Werke neuartige Spannung verleiht. Jede der fünf «Annäherungen», wie er seine Kapitel nennt, beginnt demzufolge mit ausgedehnten soziologischen Exkursen, was die Lektüre zuweilen etwas mühsam macht. Die ausgiebige Nutzung des Begriffs der «Kontingenz» für musikalisch-strukturelle Erscheinungen («Themen»), denen eine gewisse Beliebigkeit (aber keineswegs Unverbindlichkeit) anhaftet, meint die Nicht-Notwendigkeit der jeweils gewählten Form, die sich auf ein ideelles «Thema» bezieht, aber ebenso auch anders lauten könnte.
Dass «Gesellschaft
ein Produkt des Menschen» sei (S. 152), wie Kontressowitz zitierend feststellt, ist eine eher banale Feststellung, die er auch alsbald konkretisiert dahingehend, dass gesellschaftliche Objekte, objektivierte Strukturen, schon längst da sind, bevor das Individuum die Welt betritt (S. 153). Die verdinglichten Herrschafts- bzw. Klassenverhältnisse dieser «Objekte» benennt er nicht mit diesen Worten, vielleicht klänge ihm dies zu marxistisch. Dabei ist der Bezug dieses Denkens zu den Werken durchaus einleuchtend.
Im Buch findet man die Anmerkungen jeweils am Kapitelende, und auch das Literaturverzeichnis ist nicht sachlich, sondern nach Kapiteln geordnet; man braucht also für die Lektüre recht umständlich drei Lesezeichen. Die Überlegung, welches Fremdwort man für das deutsche «auswählen» verwenden sollte, das aus dem Englischen entlehnte «selektieren» oder das grammatisch-etymologisch korrekte «seligieren», löst der Autor durch eine Neuschöpfung: «selektionieren» (S. 33, 78).
Na schön, das geht. Aber dass «die Gruppe I
durch seine Variationsvielfalt» beeindrucke (S. 32), das geht nicht, es hätte «ihre» heißen müssen.
Hartmut Lück