gEIGENgARTEN

Werke von Per Nørgård, Anders Nordentoft, Arne Nordheim, Hanna Kulenty, Hans Werner Henze, Bernt Kasberg Evensen, Bent Lorenzen und Giacinto Scelsi

Verlag/Label: Helikon HCD 1067
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/01 , Seite 84

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

Der norwegische Violinvirtuose Helge Slaatto, der unter anderem bei Sandor Vegh studierte, war Konzertmeister dänischer Orchester und Ensembles, bevor er sich als Duo-Partner mit dem Kontrabassisten Frank Reinecke verbündete. Daneben hat er sich einen solistischen «Geigengarten» voller Eigenarten angelegt: ein durchgereiftes Repertoire zeitgenössischer Stücke für Violine allein, die er hier großenteils zum ersten Mal einspielt.
Natürlich liegt dem Nordmann da­ran, skandinavischen Komponisten südlich der Ostsee und des Skagerraks Gehör zu verschaffen. Um 1960 eröffnete Per Nørgård dem «Universum des nordischen Geistes» eine neue Dimension, als er die von ihm so genannte Unendlichkeitsreihe entdeckte, die fortzeugend «selbstähnliche» melodische Gestalten aus sich gebiert. Das Solostück, mit dem Slattoo sein hochspannendes Recital eröffnet, ist ein frühes Zeugnis dieser «hierarchisch» vernetzten Klangwelt, die Nørgård öfter mit Metaphern Rainer Maria Rilkes verband. In den Noten des Fragments V finden sich die Gedichtzeilen «Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an deine rührt?» und «o süßes Lied» – Anfangs- und Schlussverse aus Rilkes Liebes-Lied, die den Interpreten poetisch einstimmen.
Fünf der acht Solostücke, die Slaatto in seinem Mustergarten ausstellt, stammen aus dem europäischen Norden. Neben dem inzwischen achtzigjährigen Nørgård lassen sich die Dänen Anders Nordentoft (*1957), der bei ihm studierte, und Bent Lorenzen (*1935) hören. Dazu die Norweger Arne Nordheim (1931-2010) und Bernt Kasberg Evensen (*1944). In seinem Solo Atrani (1991) huldigt Nordentoft mittels polyphoner Flageolett- und Tremolo-Techniken dem Zikadengesang an der süditalienischen Amalfi-Küste – Sehnsuchtsziel vieler Nordländer. Auch Slaatto zog es dorthin. Wie anders hätte er das mediterrane Sirren und Flirren so (g)eigenartig nachschaffen können …
Wer hätte gedacht, dass der Bühnenkomponist Bent Lorentzen 1971 einem schieren Stück Quarz so lichtvolle, wundersam changierende Farbe-Ton-Brechungen abzugewinnen vermochte? Überraschend auch, dass Arne Nordheim, Vater der Neuen Musik zwischen Fjord und Fjell, für die Ausstellung «Klee og musikken» (1985 in Oslo) eine Partita für Paul nach fünf Bildern bzw. Zeichnungen Klees komponierte. Ein synästhetisches Glanzstück in Slaattos solitärem Geigengarten!
In dem auch Meisterstücke aus südlicheren Gefilden gedeihen. Zum Beispiel das Divertimento No. 2 (1954) von Giacinto Scelsi, dessen minimale Veränderungskunst sich Slaatto akribisch zu eigen macht. Oder Hans Werner Henzes Sonata per violino solo von 1977: Porträtskizzen der Hirten Tirsi, Mopso und Aristeo aus einer 1480 daselbst entstandenen Favola d’Orfeo. Das letzte Charakterstück schildert rondoartig, wie der brünstige Hirte Aristeo die fliehende Euridice in den Wald verfolgt, wo sie dem Biss einer Schlange erliegt. Am Ende schreit Aristeo laut und anhaltend. «Aus den Klageliedern des Monteverdischen Orfeo tönt wie von fern ein Ritornell in die moderne Rondomusik hinein», schrieb Henze vor die Noten. Ein Hinweis, den sich der Interpret hörbar zu Herzen nimmt.

Lutz Lesle