Rainer Peters

Geistige Sammlung und waches Hören

Nachruf auf den Komponisten und Dirigenten Hans Zender

erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 6/2019 , Seite 12
«Komponieren bildet für mich die konzentrierteste Form der Introversion, hilft mir zur ‹Klärung des inneren Ohrs› – das Dirigieren dagegen erlebe ich als Extraversion, als Kontakt mit Menschen. Beide Tätigkeiten müssen sich in einem regelmäßigen Rhythmus ablösen, wenn ich im Gleichgewicht bleiben will», schrieb Hans Zender in einer «Selbstdurchleuchtung» für die Donaueschinger Musiktage 1975. Im Laufe der Jahrzehnte, ergänzte er ein Vierteljahrhundert später, sei «das Komponieren … eindeutig an die erste Stelle getreten». Er habe jedoch eine möglichst umfangreiche Aneignung der Historie als Legitimation für die eigene schöpferische Arbeit angesehen: Aneignung nicht nur durch «analytische Betrachtung», sondern «durch jenes viel tiefere ‹liebende› Verstehen, das man nur durch interpretatorische Arbeit finden kann».

Der gebürtige Wiesbadener Hans Zender hatte in seinem Studienort Freiburg i. Br. auch seine Dirigentenkarriere begonnen – als 23-jährige Hochbegabung. Als Opernchef in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn (mit 27!), in Kiel und Hamburg, Chef des Sinfonieorchesters des Saarländischen Rundfunks und Niederländischen Radiokammerorchesters, als ständiger Gastdirigent der Brüsseler Nationaloper und des – zu seiner großen Erbitterung später mutwillig zerschlagenen – SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg hat er dokumentiert, dass die Objekte seines «liebenden Verstehens» sich über die gesamte Musikhistorie erstrecken: Seine Diskografie reicht von Bach bis Lachenmann, Mozart bis Feldman, Bruckner bis Yun, Riehm bis Rihm. Er liebte Schubert, Mendelssohn und Debussy, engagierte sich für Messiaen, Nono und Varèse, verlor dabei Reger und Hindemith nicht aus den Augen; er engagierte sich für die New York School und war Vorkämpfer der Musik Giacinto Scelsis. Bernd Alois Zimmermann hat ihn besonders beeindruckt als «erster Komponist, der bewusst und explizit Geschichte in sein Werk eingehen lässt», und der Zimmermann-Begriff «Pluralismus» diente ihm häufig als Beschreibung der derzeitigen und wohl auf Dauer unübersichtlichen kompositorischen Weltlage.

Schriftsteller mit leidenschaftlichem Interesse an den Künsten, an Kulturen, Philosophien. Die fruchtbaren Spannungen, denen er mit seinen inklusiven Vorlieben quer durch die Jahrhunderte und Gattungen ausgesetzt war, nannte er mit Heraklit, einem seiner philosophischen Hausgötter, «gegenstrebige Fügung»: Der Vorsokratiker hatte damit das Denken in Gegensatzpaaren bezeichnet, die trotz vermeintlicher Unvereinbarkeit zusammengehören.

Zenders Musikdenken und Komponieren war durchsetzt von solchen Gegensätzen: Er, der sich als Dirigent mit Hingabe der Zielgerichtetheit klassisch-romantischer Sinfonik, der Beethoven’schen etwa, widmete, hatte «gegenstrebig» ein Mittel gefunden, sich vom teleologischen Werkbegriff zurückzuziehen, indem er sich in asiatisches Zeitbewusstsein hineindachte, sich mit fernöstlicher Philosophie beschäftigte und diese Erfahrungen Klang werden ließ in Werkreihen, die er, ironisch verkürzend, seine «japanischen» nannte (sieben Kompositionen namens Lo-Shu) und die nicht das Geringste mit Asien-Folklore zu tun haben. Zender kannte sich im Zen-Buddhismus aus, in Yin und Yang, in der Kyoto-Schule, strebte nach nicht-linearer Zeiterfahrung und entwickelte ein besonderes Sensorium für Komponisten, die Musik ohne «Systemzwänge» frei und wie absichtslos schweifen lassen.

Deshalb wurde der Dirigent und Essayist Zender ein so überzeugter Befürworter von Scelsi und Feldman, fand aber auch überraschenderweise in Franz Schubert einen Geistesverwandten der beiden, der gelegentlich Musik somnambul, aus einer Art Traumbewusstsein heraus, «geschehen lässt», anstatt sie energisch in eine Richtung zu lenken.

Welch befreiende Wirkung diese Erfahrungen des Dirigenten für den Komponisten Zender gehabt haben müssen, lässt sich unschwer erahnen, wenn man sich seine Herkunft aus dem stets hieb- und stichfesten, affektgedrosselten Konstruktivismus von Zwölftönigkeit und Serialität vergegenwärtigt. Eine «Musique informelle» mit zu wenig (oder gar keinen) Ordnungsprinzipien allerdings war ihm so suspekt wie die Verfasser minimalistischer Klangtapeten oder die Exponenten «spontaneistischen» Komponierens, die kaum Gedanken an formale Zusammenhalte verschwenden. Zenders Nachdenken über gestaltete Zeit kreiste beharrlich um die Grenzverläufe zwischen verstandesklarer Ordnung und fantasievoller Willkür, um die Überschneidungen von Formbewusstsein und freier Mitteilung. Der korrespondierende Akt musikalischen Hörens und Verstehens, das Innewerden gestalteten Klangs findet nach Zender «nicht nur in der Reflexion, sondern schon im noch unbewussten bzw. halbbewussten Moment des Hörens», in einem affektiven Zwischenreich statt – eine Erkenntnis, auf die das Wort «Die Sinne denken» des ihm besonders nahestehenden Philosophen Georg Picht (1913–82) so genau passt, dass Zender auch seine umfangreiche Schriftensammlung von 2003 bzw. 2018 danach betitelte.

Zender war die Verkörperung des geschichtsbewussten Komponisten. Die Häufigkeit, mit der er sich in diesen Texten mit der Situation des Künstlers in der Postmoderne beschäftigte, zeigt, wie sehr er selbst in dem Bewusstsein arbeitete, man könne im derzeitigen Stadium der freien Verfügbarkeit über das musikalische Weltkulturerbe «keinen Ton mehr schreiben», ohne sich «Rechenschaft von seiner Herkunft» abzulegen. Dieses Referenz-Komponieren hat sich bei Zender verdichtet zu einer von ihm förmlich erfundenen Gattung: der «komponierten Interpretation» – orchestrale Bearbeitungen bereits existierender Gesänge oder von Klaviermusik, die die Urfassungen nicht nur farblich, sondern sinndeutend anreichern, verändern, vergegenwärtigen und verräumlichen. Zenders Version von Schuberts Winterreise wurde geradezu populär – auf dem besten Wege dahin sind seine komponierten Interpretationen von fünf Debussy-Préludes, Schumanns C-Dur-Fantasie und vor allem Beethovens Diabelli-Variationen, die Zender 33 Veränderungen über 33 Veränderungen überschrieb. (Soeben ist die erste Aufnahme der Winterreise mit ihm selbst als Dirigent wiederveröffentlicht worden – ein «historisches» Dokument aus dem Jahr 1995.)

Aus wachsendem Ungenügen an den Unvollkommenheiten der temperierten Stimmung hat Zender der Kategorie «Harmonik» besondere Aufmerksamkeit  gewidmet. Er hat die Angebote, die die Natur- und Obertonreihe dem Musiker machen, in ein System gebracht und ein Ordnungsgefüge entworfen, das er – wiederum nach Heraklit – «gegenstrebige Harmonik» nannte. Es ist eine Art «Harmonielehre», die den Halbton noch einmal in Viertel-, Sechstel- und Zwölfteltöne und damit die Oktave in 72 Mikrointervalle dividiert. Die subtile harmonische Farbigkeit dieses für die InterpretInnen besonders heiklen Verfahrens bestimmt Zenders Hauptwerke, von der Umwandlung des alttestamentarischen Hoheliedes ins Oratorium Shir Hashirim bis zu den Logos-Fragmenten, die den Anspruch, mit der Vertonung biblischer und gnostischer Texte «eine klingende Archäologie des Bewusstseins» darzustellen, mit einem differenzierten Konzept von «Musik im Raum» verbinden. Diese eindrucksvollen Menschwerdungs-Protokolle für 32 Sänger und drei Orchestergruppen sind die Nummer IX seiner Werkreihe Canto. Überhaupt dachte Zender in weiträumigen Zyklen: Unter den Titeln Hölderlin lesen und Kalligraphien finden sich jeweils fünf Kompositionen. Seine drei Opern Stephen Climax, Don Quijote de la Mancha und Chief Joseph lassen den Einfluss seines Freundes Bernd Alois Zimmermann durchblicken und arbeiten mit Verschränkungen von Räumen, Zeiten und theatralischen Aktionen. All seine Kompositionen beweisen Zenders Vertrauen in die Musik, humaner Appell, Weg zu Wahrheit und Erkenntnis sein zu können.

In diesem Sinne war er rastlos tätig, auch als sein Augenlicht immer schwächer wurde und der Morbus Parkinson ihn angefallen hatte. Er starb am 23. Oktober im «Glaserhäusl», seinem Wohnsitz in Meersburg, oberhalb des Bodensees.

Er wird weiterleben in seinen Kompositionen, seinen Schriften, seinen Aufnahmen, seinen SchülerInnen und den guten Taten der Gertrud und Hans Zender-Stiftung.