Gesänge aus Osteuropa
Werke von Sofia Gubaidulina, Adriana Hölszky, Violeta Dinescu, Galina Ustwolskaja und Myriam Marbe
Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Booklet: 3
Diese CD ist eine klingende Visitenkarte des Heidelberger Kulturinstituts «Komponistinnen gestern heute» und seines Festivals, das längst «Gegenwelten» heißt und auch Herren der (Ton-)Schöpfung zulässt. 2012 beging es sein 25. Jubiläum. Mutter des Gedankens und künstlerische Leiterin des Festivals war und ist die Sängerin Roswitha Sperber.
Soweit ersichtlich wurden alle fünf auf der CD vertretenen Komponistinnen mit dem Heidelberger Künstlerinnenpreis ausgezeichnet. Den Reigen eröffnet Sofia Gubaidulina mit zwei Gesängen auf deutsche Volkspoesie, die sie 1988 in der Holsteinischen Elbmarsch entwarf: dem «Streitlied zwischen Leben und Tod» und dem Scherzlied «Wenn der Pott aber nu en Loch hat, lieber Heinrich» für Mezzosopran, Flöte, Violoncello und Cembalo. In beiden Liedern meidet die Russin den «Schein des Bekannten».
Als Beitrag zum Festivaljahrgang 1990, dessen Thema «Blau Farbe der Ferne» den synästhetischen Nerv reizte, schrieb die rumänisch-deutsche Komponistin Adriana Hölszky ein «Flächenspiel», das sie «Flöten des Lichts» überschrieb. Auftraggeber war das Stuttgarter Bläserquintett, die Textgrundlage schuf die Schriftstellerin Ursula Haas. Neben präzise ausnotierten Partien enthält die Partitur grafisch skizzierte Episoden und verbale Anweisungen zur Geräuscherzeugung. Die extrem geforderte Vokalsolistin und ihre virtuosen Partner Willy Freivogel (Flöte), Sigurd Michael (Oboe), Rainer Schumacher (Klarinette), Friedhelm Pütz (Horn) und Hermann Herder (Fagott) erfüllen sie mit Hingabe.
Den Namen einer imaginären mythologischen Figur trägt das Duett «Euraculos» für Mezzosopran und Klarinette, das Violeta Dinescu seit 1996 Professorin an der Universität Oldenburg 1983 aus Rumänien mitbrachte. 1985 erklang es erstmals in Heidelberg. Roswitha Sperber und Valeriu Barbuceanu ermessen den Raum zwischen den Gedichtzeilen des (verfolgten) rumänischen Poeten Ion Caraion. Wie aus getrennten Welten herkommend suchen Stimme und Instrument einander immer wiederzufinden und anzuverwandeln. Ihre quasi zeitlosen, melodisch weit geschwungenen, reich verzierten und variierten Bögen ähneln der traditionellen rumänischen «Doina», die der Hirtenwelt entstammt.
Die 1988 in Heidelberg uraufgeführte Vierte Symphonie der 2006 gestorbenen, in der Sowjetunion lange totgeschwiegenen Galina Ustwolskaja ist die «reduzierteste» ihrer fünf so genannten Symphonien: nicht nur zeitlich und in der Besetzung, sondern auch hinsichtlich des musikalischen Materials. Einem rhythmischen Pulsschlag untergeordnet, werden drei Motive unausgesetzt variierend bewegt. Klangfarbliche Askese, tiefe Stimmlage und Tamtam rücken das karge Klanggebet in Todesnähe.
Rituelles Vermächtnis der 1997 in Bukarest gestorbenen, zu Zeiten Ceaus¸escus unterdrückten Tondichterin Myriam Marbe ist das Requiem «Fra Angelico Marc Chagall Voronet» für Chor, Solostimme und Ensemble: eine bewegende, überkonfessionelle Totenklage. Auf den Altartafeln des Italieners und in den Bilderträumen des Russen gewahrte sie die nämliche, ins Metaphysische weisende Bläue in den Außenfresken des Klosters Voronet in der Bukowina.
Lutz Lesle