Schulze, Holger (Hg.)

Gespür – Empfindung – Kleine Wahrnehmungen

Klanganthropologische Studien (= Reihe Sound Studies, Band 3)

Verlag/Label: [transcript], Bielefeld 2012 | 267 Seiten, zahlr. Abb., mit CD
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/01 , Seite 92

Eine Biografie eines Komponisten, ein Buch über die Musikgeschichte der Romantik oder eines über neue Spieltechniken der Oboe bringen konkrete Erwartungshaltungen mit sich. Dann gibt es aber auch Bücher, und hierzu zählt der von Holger Schulze herausgegebene Sammelband Gespür – Empfindung – Kleine Wahrnehmungen, die ihren Inhalt nicht unmittelbar preisgeben, die sich etablierter Methoden und traditionell hermeneutischer Verfahren entziehen. Vorerst lautet also die Frage: Über was schreiben die 15 Autoren des Sammelbandes eigentlich?
Grundsätzlich geht es um nichts weniger als um andere Wege und Formen der Erkenntnis, um die Rolle von Stimmungen oder von Empfindungen sowohl fürs alltägliche Dasein als auch fürs rationale Denken. Letzteres wird unisono relativiert. «Die Welt gibt Logik, Methode und Vernunft vor, an denen sich die Lebewesen bewähren oder zugrundegehen», schreibt zum Beispiel Hajo Eickhoff und fährt fort: «Entscheidungen nach Gespür haben gegenüber der Vernunft den Vorteil, dass sie schneller, sicherer und präziser getroffen werden» (S. 33).
Solche Worte klingen einleuchtend. Wem sich das nicht erschließt, der findet auf den mehr als 260 Seiten immer wieder Belege. Das Kleinkind mit einem angeborenen Herzfehler begibt sich, sobald das kleine Herzchen aus dem Takt gerät, instinktiv in die Hocke, um dessen Belastung zu reduzieren (Eickhoff, S. 29 f.). Susanne Nemmertz wiederum beschreibt sehr subjektiv, durchaus aber anschaulich die Auswahl eines geeigneten Biwakplatzes in den Bergen. Stimmungen und klangliche Atmosphären überwiegen gegenüber rationalen Erwägungen. Die erfahrene Bergsteigerin und Dozentin am Institut für Landschaftsarchitektur an der ETH Zürich lässt sich schließlich an dem Ort nieder, den ihr der eigene ganzheitlich empfindende Körper nahe­legt (S. 107). Dem Klang kommt in der Herstellung von Raum eine besondere Bedeutung zu, schreibt Nemmertz etwas lapidar am Ende ihres Aufsatzes. Angesichts dessen überrascht es, wenn in einem mit Klanganthropologische Stu­dien untertitelten Buch so wenig von der Wirkung des Akustischen auf den «Innengrund» (Ulrich Pothast, S. 81 f.) die Rede ist. Eine Erklärung mag sein, dass Begriffe wie Instinkt, Stimmung oder Gespür schwerlich zu differenzieren sind; verständlicherweise scheuen ganzheitlich denkende Wissenschaftler die Separierung unterschiedlicher Empfindungsformen.
Der Mangel konkreterer Informationen über den Einfluss von Großstadtgeräuschen, von Meeresrauschen oder Instrumentalklängen scheitert aber auch an ganz elementaren methodischen Problemen. Unsere Sprache, auch das thematisiert das Buch, ist am «rationalen Prinzip» geschult. Gespür, Empfindung, Instinkt hingegen sind begrifflich schwer zu fassen. Der richtige Ausdruck für solch «weiche Faktoren» ist in der heutigen Wissenschaftskultur weder akzeptiert noch gefunden. Ein Anfang aber ist mit solchen Büchern aus dem Umfeld der Cultural Studies gemacht.

Torsten Möller