Growlende Prinzessin

Die Performerin und Klarinettistin Carola Schaal im Gespräch mit Till Knipper

erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 5/2018 , Seite 48

Carola Schaal ist von Haus aus Klarinettistin. In ihren solistischen Programmen oder auch als Teil des Decoder Ensembles tritt sie allerdings auch in ganz performativ geprägten Werken auf. Solche szenischen Erweiterungen in der Musik waren auch immer wieder bei den diesjährigen Darmstädter Ferienkursen zu erleben. Ein guter Anlass, vor Ort mit ihr über szenisch durchgestaltete Konzerte, Fragen nach dem Sinn in Musik und über neue Projekte zu sprechen.

 

Heute gehen die Darmstädter Ferienkurse 2018 zu Ende. Haben Sie etwas Neues für sich entdeckt?

Klar. Es gibt ja derzeit insgesamt eine Öffnung der Musik und man merkt das auch in Darmstadt. Mich haben hier in diesem Jahr insbesondere performative Aufführungen berührt, etwa das 1:1-Treatment von Natacha Diehls in der Oettinger Villa innerhalb des gelungenen Nadar-Projekts «OurEars». Ich fand auch das Tarzan-Projekt von God’s-Entertainment aus einer theatralen Perspektive gewieft und konsequent, wie sie ganz offensichtlich viele Sachen zusammen­geklaut haben.

Waren Sie schon früher mal hier?

Ja, und einen für mich heute wesent­lichen Impuls bekam ich 2012, genauer gesagt: erste Konflikte mit meinem Instrument. 2012 wurde hier in Darmstadt u.a. Simon Steen-Andersens «Black Box Music» aufgeführt. Da stellte ich mir zum ersten Mal die Frage: Wozu soll ich mein Instrument auspacken? Warum sollen die Musiker live auf der Bühne spielen, wenn es auch hätte aufgenommen sein können? Ich war nicht wütend, habe mich aber richtig erschreckt und Sorge um meine eigene Zukunft bekommen. Ich habe die Relevanz des Ensembles innerhalb dieser Aufführung nicht mehr verstanden. Das Visuelle war extrem stark. Die MusikerInnen spielten im Raum verteilt, hatten jedoch keine Relevanz: Es hätten auch Lautsprecher auf den Stühlen stehen können. Aber ich bin Simon dankbar, denn es hat in mir wahnsinnig viel angeregt!

Was bewirkte diese Krise?

Wenig später bereitete ich gemeinsam mit Leopold Hurt «Letter Piece» No. 5 (2008) von Matthew Shlomowitz vor und spürte zum ersten Mal, dass ich ja vor performativen Ideen sprühe – und dass Musik in der Verbindung von Bewegung und Klang für mich Relevanz hatte. Auch «Sensate Focus» von Alexander Schubert war dann 2014 wieder so ein Stück mit einer gelungenen Kombination beider Ebenen. Spitze ist auch, dass speziell bei Matthews Stück eine humorvolle Ebene hinzukommt. Ich mag seither offene Partituren, denn ich kann dort Verantwortung übernehmen. Und das befriedigt mich.

Verantwortlichkeiten wandern heute nicht nur vom Komponisten zum Interpreten, sondern auch das Kuratieren der Festivalleiter beansprucht neue künstlerische Verantwortlichkeiten, oder?

Ja, und das hat zwei Seiten. Auf der einen Seite öffnen sich Räume für performative Projekte. Beim Ultima Festival in Oslo spiele ich mit dem Decoder Ensemble die Uraufführung von Alexander Schuberts «Control». Das ist ein hauptsächlich performatives Werk. Ein solches Stück wäre bei einem reinen Musikfestival noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen und hat auch mit konzeptionell-kuratorischen Herangehensweisen zu tun. Auf der anderen Seite habe ich Schwierigkeiten damit, dass sich annähernd jedes Festival ein Motto geben muss.

Schränkt das Motto die künstlerische Freiheit ein?

Leider ja. Das ist anstrengend und hat etwas Zwanghaftes.

Warum performen nicht einfach SchauspielerInnen? Welche Vorzüge haben MusikerInnen?

Verständlicherweise haben wir oft ein sehr gutes Gefühl für Form und Timing. Das sehe ich schon als Vorteil. Dennoch bleibt unabdingbar, dass wir Musiker immer mit einer Person von außen arbeiten müssen, denn wir sind ja keine Schauspieler. Wir brauchen eine führende Hand und haben daher für Oslo auch die Choreograf*in Heinrich Horwitz dabei, mit der wir oft zusammenarbeiten.

Blick zurück: Welche Schritte gingen Ihrer Erfahrung von 2012 in Darmstadt voran?

Ich habe ja in Hamburg ein klassisches Studium der Klarinette hingelegt, war aber während meines ganzen Studiums ruhelos, rastlos und unbefriedigt: Sollte das alles sein? Die Momente meines Studiums, die mir in Erinnerung geblieben sind, waren Einblicke in Schauspiel- und Kompositionsklassen, speziell in die Abteilung Multimediale Komposition. Ich wollte nicht nur reproduzieren, sondern auch selbst kreativ mitwirken. Zu erleben, auf welche Art und Weise in Schauspielklassen gearbeitet wird, empfand ich als befreiend. Dort hatte ich das Gefühl, dass man mir einen Spiegel vorhielt.

Sie spielen ja bis heute dennoch klassische Musik.

Absolut. Ich kann und will nicht ohne sie sein! Aber ich bin müde geworden, Werke der Klassik und Romantik auf die eine oder andere vorgegebene Art spielen und sich auf Referenzaufnahmen beziehen zu müssen. Eine Zeitlang habe ich überhaupt keine klassische Musik mehr gespielt. Mit Haut und Haaren bin ich in den Neue Musik-Swimmingpool gehüpft und mit Euphorie und Befriedigung darin geschwommen, habe währenddessen meine Spieltechniken auf Vordermann gebracht, habe Ernesto Molinari oder die ensemble recherche-Akademie besucht. Und dann kam irgendwann wieder das Bedürfnis nach dem reinen Klarinettenspiel, nach tragendem Wohlklang. Entgegen der Meinung vieler Instrumentalisten, dass die Neue Musik den Ansatz verderbe – Quatschkram –, habe ich mir dann die Freiheit genommen, mit den Techniken der Neuen Musik auch ältere Werke zu spielen. Selbstverständlich benutze ich für Mozarts Klarinettenkonzert Permanentatmung – und er hätte sich gefreut, würde er heute leben. Ich habe mich selbst von den ganzen Regularien, wie man dies und jenes zu spielen, wie man eine Kadenz zu füllen hat, befreit.

Haben Sie derzeit ein Lieblingsstück für die Klarinette?

Mein Bedürfnis nach Klarinettenklang befriedige ich momentan besonders gerne mit Olivier Messiaens «Quatuor pour la fins du temps» (1940/41), das ich in den nächsten Jahren immer wieder aufführen werde. In meiner Version werden aber nicht vier Musiker auf die Bühne treten, man applaudiert, setzt sich und das Vögelchen beginnt zu zwitschern, dann endet man mit dem himmlischen Flageolett der Geige, gefolgt von Applaus: Das will ich nicht. Ich arbeite mit der Overhead-Projektionskünstlerin Katrin Bethge zusammen, habe Kleidung schneidern lassen, so dass wir MusikerInnen selbst im Bühnenbild sitzen und als Projektionsfläche dienen. Ich habe eine Atmosphäre geschaffen, dass wir ohne Applaus den Saal betreten, das Publikum ruhiger wird und die Musik aus der Stille beginnt – und nicht mit Klatschen und Setzen. Die Projektion mit immer nur kleinen Veränderungen wird am Ende, abhängig von Raum und Stimmung, noch einige Minuten weiterlaufen, bis jeder für sich den Klang zu Ende hören konnte. Ich mag den Werken einen adäquaten Rahmen geben, es geht mir um das Gesamte. Ich finde, dieses Quartett fordert solch einen Rahmen.

Musik ist mehr als Klang.

Unterschreibe ich sofort.

Ist die Zeit der reinen Instrumentalmusik vorbei?

Generell vorbei bestimmt nicht. Es gibt zunehmend den Drang, und das höre ich so auch von anderen InterpretInnen, mehr Verantwortung übernehmen zu wollen. Spartenübergreifende, künstlerische Zusammenarbeiten stehen somit stark im Fokus. Man gibt Input und möchte sich auch in dem, was dann entsteht, widerspiegeln. Wenn ich KomponistInnen bitte, etwas für meine Person oder mich als Klarinettistin zu schreiben, dann sage ich ihnen, dass es einen verdammt guten Grund geben muss, damit ich mein Instrument auspacke. Ich habe ein sehr ambivalentes Verhältnis zur zwanghaften Nutzung des Instruments, denn in außerordentlich vielen Momenten sehe ich einfach eine gekünstelte oder gar keine Relevanz mehr.

Die Frage nach der Eigenverantwortlichkeit von InterpretInnen stellte sich schon vor einem halben Jahrhundert. Befinden wir uns wieder in einem Revival jener Zeit?

Ja, aber auf einer ganz anderen Ebene. Damals stand die Rationalität im Vordergrund. Und das bricht gerade. Man sieht das an Werken wie z. B. Martin Schüttlers «My mother was a piano teacher (…)», uraufgeführt bei den Donaueschinger Musiktagen 2017. Es zeigt die authentisch erlebten, quälenden Momente der musikalischen Ausbildung; sie werden plötzlich auf die Bühne gebracht.

Die Neue Musik sucht nach ihrer gesellschaftlichen Relevanz. Ist die Performance ein Ausweg?

Das Decoder Ensemble hat derzeit in der Elbphilharmonie die eigene Konzertreihe «Unterdeck». Alle unsere Konzerte sind dort durchinszeniert und mit inhaltlichem Bezug. Es ist was anderes als ein herkömmliches Konzert mit vier, fünf Stücken unterschiedlicher Ästhetik. Das ist nett, aber halt vorbei. Mit unserer Konzertreihe sind wir in der glücklichen Lage, dass Leute bislang einfach ein Ticket für die Elbphilharmonie haben wollten – und die Tickets waren immer blitzschnell ausverkauft. Die wussten gar nicht, was sie erwartet [grinst]. Somit hatten wir für die ersten drei bisherigen Abende, gestaltet von Brigitta Muntendorf, Nora Gomringer und Simon Steen-Andersen, ein fast komplett fachfremdes Publikum. Die Resonanzen reichten großteils – ich bekomme eine Gänsehaut – von großer Dankbarkeit bis zu Tränen. Ja, es funktioniert: Wir haben nur maximal zehn Jahre alte Werke aufgeführt und so vermittelt es sich einfach ganz direkt.

Bedeutet es einen großen Aufwand, ein Konzert zu inszenieren?

Es ist ein unfassbar großer Aufwand. Es ist wichtig, dass durch die Inszenierung ein roter Faden entsteht, sich ein Thema vermittelt, durch das man abgeholt, woanders hingeführt und auch mal verstört wird. Es muss ein Gesamtmoment entstehen. Für mein neues Soloprojekt «Bonny Crude» habe ich mich übrigens entschieden, ein eigenes und drei bestehende Stücke zu programmieren, deren KomponistInnen ich auch persönlich gut kenne: Brigitta Muntendorf, Andrej Koroliov und Alexander Schubert.

Sie betonen den persönlichen «Draht»: Braucht man diesen?

Ja, denn in der künstlerischen Zusammenarbeit sollten wir uns gegenseitig spiegeln. Es geht um Vertrauen. Was die Inszenierung von «Bonny Crude» angeht, arbeite ich ebenso mit der Choreograf*in Heinrich Horwitz zusammen, zu der ich einen feinen Draht habe. Bei allen Werken wird die Stimme in unterschiedlichster Form eingesetzt. Als Klarinettistin trete ich jedoch nur sieben Minuten in Erscheinung. Brigitta war die Erste, die mich 2017 in ihrem Stück #AsPresentAsPossible ohne Instrument auf die Bühne rausgeschickt hat, die mir zugetraut hat, ein 17-minütiges Stück ganz ohne Instrument aufzuführen. Das habe ich als ein riesiges Vertrauen mir gegenüber empfunden.

Carola Schaal in Brigitta Muntendorfs #AsPresentAsPossible (Foto: Gerhard Kühne)

 

Was genau passiert in dem Stück? Ein Szene-Bild ist ja auf der Anzeige der Donaueschinger Musiktage zu sehen.

Es geht in Brigittas Stück um das Verhältnis von Realität und Fiktion, Präsenz und Sichtbarkeit. Wir haben Szenen vorab gedreht, wobei ich einen weißen Anzug trage und die Klarinette optisch einsetze, das Instrument aber nicht spiele. Im Konzert selbst trage ich die gleiche Klamotte und werde auf mich selbst projiziert. Manchmal sieht es wirklich so aus, als würde ich spielen, aber es ist nur die Projektion. Ich nutze live im Konzert die Stimme und meinen Körper.

Und was hört man?

Es ist eigentlich ein sich allmählich verdichtender Song, der sich aus kleinteiligen Patterns, Pop-Elementen, aufbaut, unterstützt durch Schlagzeug- und Klavierklänge, Elektronik sowie gesprochenen Text, kombiniert mit Bewegungen. Die meiste Zeit werde ich im Video gedoppelt, nehme Kontakt zu mir selbst auf. Ganz zum Schluss laufe ich nach vorne. So nehme ich wieder mich selbst, mein Abbild, in mir auf, das dann immer kleiner wird. Ich beobachte mich, wie ich
das Instrument halte. Ein sehr liebevoller Moment!

Das Stück ist Teil deines neuen Solo-Programms «Bonny Crude». Gibt es für dieses ein übergreifendes Thema?

Der inhaltliche rote Faden führt direkt zu meiner Person. Es geht um die Beleuchtung eines weiblichen Wesens: nicht nur die Schönheit und Eleganz, eher das Gegenteil mit einer gewissen Derbheit, Tiefgründigkeit, Mut zur Hässlichkeit – und ja, mit einer gnadenlosen Emotionalität. Ich persönlich schalte immer erst meinen Bauch ein, dann meinen Verstand. Ich habe eine Schneiderin beauftragt und die Klamotte wird eine gewisse Direktheit ausstrahlen. Ich erlaube mir, als klassische Musikerin meinen eigenen Körper bewusst als Medium einzusetzen. Und ich finde das nicht platt, wenn es dem Inhalt dienlich ist. Über die letzten Jahre habe ich bemerkt, dass mir krasse Brüche enorm Spaß machen, etwa wenn eine Frau elegant auf die Bühne schreitet und dann anfängt zu growlen (Anm. Red.: sehr rauer, aggressiv geschriener Gesangsstil, üblich in Genres wie Death Metal), was einen auch visuell bestimmt nicht hübscher macht. Ich sehe mich selbst gerne als growlende Prinzessin.

Ein herkömmliches Klarinetten-Recital wird zumindest von einem Klavier begleitet. Sind Sie wirklich alleine beim Soloprogramm?

Nein. Auch wenn ich alleine auf der Bühne stehe, ist es ein Duo-Projekt mit Donny Karsadi. Er ist ein bemerkenswerter Komponist, tritt aber hier als erfahrener Sounddesigner in Erscheinung. Es hat sich ja mittlerweile etabliert, dass man aufgrund der technischen Anforderungen eng mit einem Sounddesigner zusammenarbeitet. Das ist dann auch kein Tontechniker, sondern einer, der künstlerisch mitarbeitet. Auch beim Decoder Ensemble hatten wir ja von Anfang an Alexander Schubert für Sounddesign, Licht usw. als ein gleichwertiges, festes Ensemblemitglied mit dabei.

Wie kam es bei der Gründung 2011 zu der Idee, ihn in dieser Rolle als festes Ensemblemitglied einzuplanen?

Weil Alex während des Studiums immer bei den Partys mit dabei war oder selber welche veranstaltet hat [lacht]. Nein, es hatte damit zu tun, dass wir ähnliche ästhetische Vorstellungen hatten und haben. Und es war uns immer wichtig, dass wir alle gleichwertige Mitglieder sind. Ich arbeite ja vielfältig mit Alex zusammen, habe etwa den performativen Teil des Ganzkörperhasen in seinem Stück «F1» (2016) übernommen. Das ist exorbitant aufwändig, weil Videoteile des Stücks am jeweiligen Aufführungsort vorab gedreht und in das Werk eingefügt werden müssen.

Derzeit stecken Sie mitten in einem neuen, ganz auf Sie zugeschnittenen Projekt mit ihm.

Ja, Alex nennt «Acceptance» (2018) ein «audiovisuelles Musikstück für Klarinette, Stimme, Video und Performance». Ein konzeptionell wesentlicher Teil ist eine Videodokumentation. Es geht dort um Selbsterfahrung. Ich habe fünf Tage in der Natur gelebt auf 2200 Metern Höhe an einem See mit einer Kulisse schneebedeckter Berge. In den fünf Tagen musste ich sechs drei Meter hohe Plus-Zeichen als Holzskulpturen bauen: Das Plus als doppeltes Minus-Zeichen, also nicht im Sinne christlicher Kreuze. Es sollte für mich körperlich und mental eine existenzielle Grenzerfahrung werden – und es war weit über dem, was ich erwartet hatte.

Carola Schaal als Handwerkerin auf 2200 Metern Höhe für Alexander Schuberts «Acceptance» (2018)

 

Was ist passiert?

Fast die ganze Zeit war ein Kameramann neben mir und hat alles aufgezeichnet. Ich habe ihn ignoriert und bald nicht mehr bemerkt. Die benötigten Holzbalken musste ich kilometerweit schleppen und ohne elektrische Hilfsmittel vor Ort präparieren: mit Stecheisen die Verzahnungen der Balken einkerben, zurechtsägen und mit einem Handbohrer ein großes Loch durch beide Balken herstellen für den Holznagel. Schließlich brauchte es noch ein tiefes Loch im steinigen Boden, um die Skulptur aufzurichten. Alle sechs Skulpturen habe ich letzten Endes um den See aufgebaut.

Warum ein handwerkliches Setting?

Alex hat das vorgegeben und er weiß, dass ich handwerklich begabt und erfahren bin. Aber die Plus-Zeichen haben keinen künstlerischen Anspruch, sondern sind ein Mittel, um an die eigene Grenze zu gelangen. Es geht hier um Reflexion und Trauerbewältigung, darum, dass man etwa einen Menschen verliert, weil er stirbt oder sich umorientiert. Und wenn man so alleine am Arbeiten ist, kommen einem natürlich unendlich viele Emotionen hoch. Trauerbewältigung hat ja auch das Potenzial, dass etwas Schönes daraus entstehen kann: Man muss lernen zu akzeptieren.

Und Sie haben fünf Tage nicht gesprochen?

Noch nie zuvor habe ich fünf Tage geschwiegen, was eine extreme, aber positive Erfahrung war. Ich habe alleine in den Bergen wahnsinnig viel geweint und gelacht. Es kam sehr viel in mir hoch und ich habe diese Emotionen in die Mitte des Sees geworfen. Es war krass für mich zu erleben, wie liebevoll ich mit mir selber umgegangen bin in solch einer körperlichen Grenzerfahrung. Wenn man alleine ist, reflektiert man das auch ganz anders.

Hat Sie die Einsamkeit den Menschen näher gebracht?

Total nah. Ich war davon überrascht und habe mich auch keine Sekunde alleine gefühlt. In der Natur ist man nie alleine. Die Schönheit eines Sonnenuntergangs war so überwältigend, dass mir die Knie wegsackten. Sicherlich lag das auch an meiner Erschöpfung, aber ich habe schon lange nicht mehr ein so echtes
Gefühl empfunden. Wenn man durchgehend gefilmt wird, sind allerdings auch Momente dabei, in denen man sich de­finitiv selbst nicht sehen will. Zweimalig bin ich ausgerastet. Ich war fertig, die Balken wollten nicht ineinander, ich konnte die Säge nicht mehr mit meinen wunden Händen halten. Ich habe angefangen zu heulen, habe Sachen weggeballert, ein Werkzeug zertrümmert. Ich konnte nicht mehr. Ich wusste wirklich nicht mehr, dass es Audio- und Videoaufnahmen gibt, und nun graut mir davor, mir selbst beim Ausrasten zuzusehen. Vorab habe ich allerdings zugesagt, dass alles von Relevanz verwendet werden darf. Da braucht man nun Mut zur Hässlichkeit.

Der Dreh ist wenige Wochen her. Den Film haben Sie noch nicht gesehen?

Nein, ich wollte jetzt noch gar nichts sehen. Der Film wird derzeit geschnitten und wird ebenso stumm sein wie ich in den Bergen. Es geht darum, dass Emotionen nicht geführt werden wie in einer Rolle. Das bin einfach ich, das sind authentische Emotionen, die aus mir heraussprudeln. Alex weiß und wusste, dass mein emotionales Raster extrem ausgeprägt ist, um das gelinde zu formulieren. Was dann noch zu dem Film passiert, bin ich als Live-3D-Carola. Ich werde sprachlich, klanglich und musikalisch dabei sein. Es wird narrative Erläuterungen geben. Ich erzähle, was ich dabei erlebt habe.

Also eine künstlerische Doku einer starken Selbsterfahrung?
Ja, genau, könnte man so sagen. Wie bei allen Sachen von Alex ist das eine riskante Vorgehensweise. Es kann sein, dass sich diese Emotionen bei der Uraufführung am 4. Oktober in Straßburg über die Bilder gar nicht vermitteln. Aber auch das genaue Gegenteil ist möglich.

Termine

  • 4. Oktober 2018, UA von «Acceptance» im Rahmen eines Porträtkonzerts Alexander Schubert mit dem Decoder Ensemble, Festival musica, Strasbourg
  • 10. November 2018 (Premiere), Solo-Programm «Bonny Crude», Klangwerkstatt Berlin