Gurdjieff, Georg Iwanowitsch

Harmonium Improvisations LP

Verlag/Label: Mississippi Records MRP021 (Vertrieb über A-Musik)
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/02 , Seite 89

Musikalische Wertung: 3
Technische Wertung: 2
Booklet: 2

1949, als diese Improvisationen auf dem Harmonium entstanden, war ihr Urheber Georg Iwanowitsch Gurdjieff wahrscheinlich 83 Jahre alt, denn 1866 wird als sein Geburtsjahr vermutet. Am 29. Oktober 1949 ist er in Paris gestorbenen und hinterließ auf 44 Tonbändern 113 Harmoniumaufnahmen, die zwischen dem 1. April und 16. Oktober 1949 in seinem Pariser Apartment entstanden sind.
Gurdjieff, griechisch-armenischer Herkunft, bewegte sich in esoterischer Umgebung und begründete den «Vierten Weg», ein spirituelles System zur inneren Entwicklung des Menschen, dem er als wesentliches Symbol das Enneagramm zuteilte. Dieses Zeichen – ein Kreis mit einer neuneckigen Figur, die wiederum aus einem gleichseitigen Dreieck und einem sechseckigen Gebilde besteht – präsentiert die Vorderseite der seidig gerasterten, mit goldener Farbe verzierten Hülle einer Vinylplatte, die sieben Harmonium-Improvisationen Gurdjieffs enthält. Auf 1500 Kopien limitiert, vermittelt das Album elegische Klänge, die nur geringfügig in Tonhöhe und -intensität variieren und eine stereotype, in sich geschlossene, keinem Thema folgende Klangsprache vermitteln.
Die Musik ist pur, ohne später hinzugefügte Ergänzungen oder Bearbeitung in Form von Klangbereinigung und Mängelbeseitigung. Im Gegenteil: Den Interpreten überfällt zuweilen ein Hustenreiz wie am 30. Juni 1949, als Gurdjieff die mit diesem Datum bezeichnete Improvisation auf einem Harmonium spielte und aufzeichnete. Hier ist erkennbar, wie wenig es dem Urheber um fehlerfreie Interpretation ging und, andererseits, wie sehr die Tagesform des Musikers darüber entschieden hat, welche Qualität den Weg ins Vinyl fand. Gurdjieffs Ziel war es, mit seiner die Klangbilder wiederholenden Musik eine innere Vibration beim Zuhörer zu erreichen, eine ungehinderte Konzentration auf das, was den Hörer im Moment der Klangerkenntnis beschäftigt. Gurdjieffs Vorstellung, dass alles, was den Menschen an Energie, Zustand der Seele, Gestik, Geist- und Körperhaltung ausmacht, ihn in Form von Schwingungen erreicht, sah er durch religiöse und weltliche Tänze manifestiert. Er selbst entwickelte mehr als zweihundert Tänze, die «Movements», die Geist und Körper zusammenführen sollen.
Die Improvisationen auf dem Harmonium, die Gurdjieff an einem Tag im Mai, an vier Tagen im Juni und wieder an einem Tag im Oktober 1949 spielte, unterscheiden sich jedoch erstaunlicherweise von diesen «Movements». Sie erinnern vielmehr an Elegien, die einen ruhig fließenden Strom vager Klangvorstellungen transportieren. Manchmal schleichen sich schräge, unpassende Töne ein, und das Husten des Instrumentalisten und andere Geräusche, die bei der Bedienung des Harmoniums entstehen, stören den meditativen Charakter der Musik. Gur­djieffs Musik zeigt sich hier als eine Art Vorläufer für psychedelisch gefärbte Mu­sik, die in den 1960er Jahren insbesondere in Rockmusik- und Hippiekreisen großen Anklang gefunden hat. Gurdjieffs Improvisationen mögen während ihrer Entstehungszeit ein Expe­riment gewesen sein, heute sind sie Ausdruck eines jeder Programmmusik widersprechenden Soundabenteuers, das den gleichberechtigten Zustand von Geist und Körper illustriert.

Klaus Hübner