Demuth, Marion / Hiekel, Jörn Peter (Hg.)
Hören & Denken
Neue Musik und Philosophie
«Theodor W. Adorno war der letzte und vielleicht einzige Philosoph, der etwas von neuer Musik verstand», und der anhand von Musik die veränderte Rolle der Kunst in der modernen Gesellschaft insgesamt zu bestimmen suchte. Laut Albrecht Wellmer ist seitdem «die philosophische Reflexion auf die Musik zu einem beträchtlichen Maße in die Produktion der neuen Musik selbst eingewandert». Folgerichtig geht der Berliner Philosoph auch nicht auf Texte von Kollegen ein, die sich ohnehin nicht mit neuer Musik befassen, sondern wendet sich Komponisten zu, namentlich Cage, Henze und Lachenmann, denen es trotz unterschiedlicher Ansätze um dieselbe Frage geht: Inwieweit kann Musik nach dem Ende der Tonalität noch existenziell bedeutsam in den Erfahrungszusammenhang der Hörer eingreifen?
Eine «Geburt der Philosophie aus dem Geist der zeitgenössischen Musik» konstatiert gar Simone Mahrenholz angesichts der von vielen Komponisten intendierten Hörerfahrung, bei welcher das Publikum mit der Musik zugleich die («transzendentalen») Bedingungen der Möglichkeiten des eigenen Wahrnehmens und Erkennens verstehen soll. Konkret werkbezogene Proben auf dieses Exempel machen Marion Saxer bei Morton Feldman und Patrick Müller bei Beat Furrer und Isabel Mundry. Werden Denken über Musik und Denken in Musik üblicherweise getrennt untersucht, bringen die elf Vorträge des vom Europäischen Zentrum der Künste Hellerau und dem Institut für Neue Musik der Dresdner Musikhochschule 2007 veranstalteten Kolloquiums die verschwisterten Arbeits- und Seinsweisen zusammen.
Zentrale Aspekte der «Liaison» von Musik und Philosophie exponiert Jörn Peter Hiekel am Beispiel des Einflusses von Philosophie als «Reflexionsmedium» und «Stimulans» auf die Musik von Bernd Alois Zimmermann. Dieter Mersch argumentiert gegen den von Adornos «Philosophie der neuen Musik» (1949) aufgebauten Antagonismus von «Schönberg und der Fortschritt» versus «Strawinsky und die Reaktion», um stattdessen für eine «Neuvermessung der Geschichte neuer Musik jenseits ihrer Schulbildungen und Einzelbiografien» zu plädieren, was nach dem Ende der Fortschrittsideologien nur plausibel erscheint, doch kaum originelle Anstöße zu neuen Orientierungen bietet. Um postmoderne Musikphilosophie nach Adorno geht es auch Susanne Kogler auf der Basis der Schriften Jean-François Lyotards, dem Musik von Bach, Berio und Cage als Paradigma von Kunst diente. Ebenso argumentiert Hans Zender gegen alte Polarisierungen und für eine «komplexe Polyphonie» von wissenschaftlichem, künstlerischem und philosophischem Denken und Wahrnehmen.
Der 2009 verstorbene Heinz-Klaus Metzger kommentiert in einem seiner letzten Vorträge Cages berühmte Lectures bei den Darmstädter Ferienkursen 1958, deren Fragen er seinerseits mit erhellenden Nachfragen versieht. Eine philosophisch-musikalische Einheit bildet der Beitrag von Markus Hechtle. Als ein einziger, ohne Punkt durchlaufender Satz vertritt dieser Essay sowohl formal als auch inhaltlich als labyrinthische Folge gegenseitig sich aufhebender Zitate von Heidegger, Jaspers, Schopenhauer, Leibnitz und Schiller eindrücklich Nicht-Festlegbarkeit als ästhetische Maxime: Kunst ist ständige Bewegung, Offenheit und Freiheit zum Widerspruch.
Rainer Nonnenmann