How to Get Out oft the Cage. A Year with John Cage

Filmdokumentation von Frank Scheffer (mit experimentellen Zusatztracks) | 148 min.

Verlag/Label: EuroArts 2059168
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/06 , Seite 77

Kein anderer Komponist des 20. Jahrhunderts hat so zielstrebig die neuen Medien in sein Schaffen einbezogen wie John Cage, wobei der Begriff «neue Medien» zeitlich so variabel zu verstehen ist wie seine Ästhetik – er reicht vom Plattenspieler der 1930er Jahre über Tonband und Radio, den Film und die Analog-Elektronik bis zum Computer der 1980er Jahre. Nicht zu vergessen die traditionellen Druckmedien, mit denen Cage seine Grafiken und Radierungen herstellte. Alle Entwicklungsstufen und Erscheinungsformen der rasant sich verändernden Medienlandschaft hat er für seine Arbeiten genutzt. So erstaunt es auch nicht, dass die mediale Produktion im zu Ende gehenden «Cage-Jahr», in dem der 90. Geburts- und der 20. Todestag des amerikanischen Komponisten «gefeiert» wurden, auf Hochtouren lief. Neben den zahlreichen CD-Aufnahmen, Publikationen und Aufsätzen sind die Filme von besonderem Interesse, ist doch das audiovisuelle Medium am besten in der Lage, eine so komplexe Erscheinung wie John Cage es war, dokumentarisch zu erfassen.
Auch der niederländische Musikfilmer Frank Scheffer geriet in den Bann der künstlerischen Persönlichkeit John Cage, wie er im Vorspann bekennt: «Als ich John Cage im Juni 1982 beim Holland Festival erstmals begegnete, sprachen wir ungefähr eine Stunde lang zusammen. Das veränderte mein Leben als Künstler. Seine Art zu Denken hatte meinen Geist geöffnet.» Sein 2012 entstandener Film How to Get Out oft the Cage – A Year With John Cage basiert auf Aufnahmen, die er 1987 machte. Das etwas grobkörnige Material wurde bei fünf Gelegenheiten gedreht: Bei der Veranstaltung «NachtCageTag» in Köln, bei einer Aufführung von Roaratorio mit der Merce Cunningham Dance Company in der Royal Albert Hall in London, beim Los Angeles Festival, in New York und bei der Uraufführung von Europeras in Frankfurt.
Scheffer spürt vor allem den zen-basierten philosophisch-ästhetischen Überzeugungen von Cage nach. Er entlockt ihm griffige, altbekannte Weisheiten wie: «Ich bin nicht an Kontrolle interessiert, ich bin interessiert an Unvorhersehbarkeit», oder: «Ich treffe keine Auswahl, ich stelle Fragen.» Diese sentenzenartigen Aussprüche werden vor allem im ersten Teil vielfach aus dem Off gesprochen und mit Musik und Bildern grundiert. Manches klingt ein wenig wie Sarastros Weisheiten, und der Andachtscharakter ist nicht mehr fern, wenn Cage beim Auftritt in der Kirche in priesterlichem Tonfall mit viel Nachhall seine rätselhafte Lectio vorträgt: «And that is poetry as it and that to say poetry as that as I need nothing it and that to as …»
Zum Glück bleibt es nicht bei diesen Andachtsritualen vor hingebungsvoll lauschendem Publikum, sondern man bekommt im Lauf des Films auch immer mehr mit von Cages Klarsicht, was das Wesen der Musik und die Rolle von Kunst und Künstler in der Gesellschaft angeht. Die spirituelle Komponente, die in den Konzertaufnahmen zuvor als kunstreligiöse Inszenierung erschienen ist, wird nun im Gespräch präzise und einfach in Worte gefasst. Ohne Umschweife stellt der 75-Jährige fest: «Musik soll den Geist beruhigen und ihn für göttliche Einflüsse öffnen», und er beruft sich dabei auf alte indische Traditionen. Dazu, fügt er an, sei allerdings geistige Disziplin nötig, und die habe er durch das I-Ching gelernt. Und was aus dem Mund eines Komponisten, der jahrzehntelang mit wüsten Materialexperimenten identifiziert wurde, vielleicht noch erstaunlicher klingt: Die Aufgabe von Musik sei, Freude in unser Leben zu bringen.
Die kritische Reflexion vergisst Cage darob nicht. Er holt seine Gedanken aus der Zeit um 1970 wieder hervor, als er unter dem Einfluss von Marshall McLuhan und Buckminster Fuller voller Zukunftsoptimismus auf die Verbesserung der Menschheit durch die Technik hoffte. Doch nun sind diese Gedanken durch Altersweisheit geläutert. «Die Welt ist eins, wir haben das zentrale Nervensystem erweitert», zitiert er McLuhan, «Elektronik und neue Technologien machen die Revolution für uns.» Den technologischen Fortschritt sieht er aber nicht, wie das in der heutigen Internet- und Computerwelt häufig der Fall ist, bloß unter technizistischen Aspekten oder abgelöst von Verantwortung für das Ganze, sondern als Aufgabe, um das friedliche Überleben aller zu sichern: «Das Projekt Erde ist unsere Herausforderung.»
Und noch eine andere Stimme aus der Vergangenheit lässt Cage wieder anklingen, wenn er beklagt, dass es heute bei den Verantwortlichen auf allen gesellschaftlichen Stufen an lösungsorientierter Intelligenz fehle: die Stimme von Henry David Thoreau, dem alten Transzendentalisten und Individualanarchisten aus Concord. An ihn erinnert Cage, wenn er davon spricht, dass nur eine funktionierende Anarchie – der lose Zusammenschluss vieler selbstverantwortlich Handelnder – die Gewähr dafür biete, dass intelligente Lösungen für unsere heutigen Probleme gefunden werden können. «The best government is no government at all» – dieser Gedanke Thoreaus ist für Cage ungebrochen aktuell.

Max Nyffeler