Michel Roth

Im Bau – 15 Klangräume nach Franz Kafka

Ensemble æquatuor

Verlag/Label: Wergo WER 73842
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 1/2020 , Seite 71

“Im Bau ist packendes Hörtheater von einer großen Aktualität – in einer Zeit, in der sich viele von der Abschottung Sicherheit und Wohlstand versprechen, sich so der Lebendigkeit berauben. Und Roths Komposition in ihrer eigenen, grandiosen musikalischen Sprache bewegt sich nahe an Kafka.” (Christian Fluri)

Ein beklemmendes, in seiner dicht gewobenen Klanglichkeit aufwühlendes Hörtheater ist Michel Roths Stück Im Bau nach der Erzählung Der Bau von Franz Kafka. Roth schuf das Stück als einaktige Oper, uraufgeführt 2012 u. a. beim Lucerne Festival und im Theater Basel. 2017 wurde Im Bau. 15 Klangräume nach Franz Kafka als Hörtheater in Räumen der Musik-Akademie Basel gespielt. Nun ist das Stück des 1976 geborenen Schweizer Komponisten auf CD erschienen – in der durch Michel Roth mit der Forschungsabteilung und dem elektronischen Studio der Hochschule für Musik Basel erarbeiteten radiophonen Fassung. Die Stimme der ausdrucksstark gestaltenden Mezzosopranistin Anne-May Krüger und die vom Ensemble æquatuor mit hoher Intensität gespielte Musik winden sich in die Hörgänge des Zuhörers/der Zuhörerin und evozieren im Kopf starke, klaustrophobische Bilder.
Kafkas Geschichte Der Bau erzählt von einem tierischen Wesen, das sich einen sicheren Bau gegraben hat. Es sieht ihn als eine Art unter­irdisches Schloss mit Burghof. Hier glaubt es sich sicher vor seinen Feinden, aber nur für Momente, dann schleicht sich wieder Unsicherheit in sein Denken, Angst. Ein feindliches Wesen könnte trotz allem in den Bau eindringen, die Gänge durchbrechen. Zugleich begehrt es zu sehen, was draußen ist, sucht dort Leben, schaut stolz von außen auf seinen Bau und fürchtet wiederum, dass jemand einbrechen könnte. Es kann ohne seinen Bau nicht leben, kriecht wieder hinein, hört ein pfeifendes Geräusch, das es nicht mehr los wird, fürchtet sich immer mehr, dringt tiefer und tiefer, das Pfeifen bleibt. Der Bau wird zum Grab.
Michel Roth, der Kafkas Text selbst als Libretto adaptiert hat, nennt sein Stück Im Bau. Richtigerweise: Denn seine Komposition für Oboe und Lupophon (Bassvariante der Oboe), für Cello und Singende Säge, für Klavier und Melodica sowie für Live-Elektronik führt direkt in und durch die Gänge des Baus. Die dichten, eindringlichen Klanggebilde, die sich meist in leiseren Sphären bewegen, sind von enormer Intensität – packend gespielt vom Oboisten Matthias Arter, der Cellistin Martina Brodbeck, der Pianistin Ingrid Kalen. Die Live-Elektronik (Ueli Würth) verleiht Instrumentenklängen und Stimme eine eigene Räumlichkeit, macht Enge, Tiefe, das Dunkel und die labyrinthische Struktur hörbar: gleichsam eine Reise ins Unbewusste.
Großartig, wie Anne-May Krüger den oft rezitativischen Part mit hoher Textverständlichkeit gestaltet, wie sie die wider einander streitenden Gefühle von Sicherheit und Enge, von Bedrohung und Angst, von Lebenswunsch und Abschottung mit ihrer an Ausdrucksmitteln so reichen Stim­me erzeugt; auch wie das Wesen in der Tiefe entschwindet – dies nachdem Roth das Stück dort, wo einem die Beklemmung förmlich den Atem raubt, mit dem Mittel des epischen Theaters kurz klug aufbricht.
Im Bau ist packendes Hörtheater von einer großen Aktualität – in einer Zeit, in der sich viele von der Abschottung Sicherheit und Wohlstand versprechen, sich so der Lebendigkeit berauben. Und Roths Komposition in ihrer eigenen, grandiosen musikalischen Sprache bewegt sich nahe an Kafka.

Christian Fluri