Mitterer, Wolfgang
Im Sturm
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 5
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 5
Mit schöner Regelmäßigkeit geistert das Liedschaffen Franz Schuberts durch die neue Musik (Killmayer, Rihm etc.) und hat ambitionierte «Neukompositionen» hervorgerufen wie Hans Zenders Winterreise. Der österreichische Komponist, Organist und Performance-Künstler Wolfgang Mitterer hingegen, polyglotter Akteur auf allen nur erdenklichen Terrains des modernen Musiklebens, geht seinen Schubert eher subversiv, aber nicht ohne intime Beziehungen zum Gegenstand an: «Ich wollte gern diese alte Form des Liedes mit Klavierbegleitung vom Dachboden des 19. Jahrhunderts herunterholen, den Staub und die Vorurteile abwischen, um zu sehen, ob der alte Glanz noch einmal aufpoliert werden kann, ob sich das alte lyrische Element mit der Musik der Raketenabwehrsysteme, der großen Klär- und Abhöranlagen, der Hochgeschwindigkeitszüge und -gefühle verbinden, verzahnen und verstören lässt.» Herausgekommen ist Im Sturm (2004/07), ein elfteiliger Liederzyklus für Bariton, präpariertes Klavier und Elektronik, der Schubert und seine Klischees mit Inbrunst verwendet, verfremdet und dessen elementare Ausdrucksgesten im Rahmen polystilistischer Collagen ins Heute transportiert mit hörbarer Affinität zur Vorlage übrigens.
Gleich das Eingangslied «Ein Bild» präsentiert diese einfühlsame Fantasie über die Befindlichkeiten des Schubertschen Liedes als Mitterer-typisches Flickwerk aus romantischen Versatzstücken, Jazz-Valeurs, Pop-Schnipseln und elektronischen Störfeuern, durch die sich Georg Nigel zwischen Melancholie und Irrsinn mit Bravour laviert, um die Topoi des romantischen Kunstliedes mit neuer Bedeutung aufzuladen. So wie sich Nigl nicht nur wenn er ins pathologisch bewährte Falsett springt dabei artikulatorisch beizeiten am Rande der Umnachtung bewegt (am unmissverständlichsten in poor visibility), entsprechen Mitterers hybride Kunstlied-Reflexionen dem romantischen Gefühlshaushalt mit unvorhersehbaren Klangverläufen und gespenstischer Unruhe. Die können als anspielungsträchtiges Amalgam aus Gesang, verfremdetem Instrumentalklang und Bandzuspielungen jederzeit Klangfetzen unterschiedlichster Musikstile, Stimmen oder Realgeräusche in den historischen Kontext hineinwerfen.
Bei aller ironischen Distanz zur Vorlage (die wie in «Ungeduld» auch Formen von purem Nonsens annehmen kann) findet Mitterer im Wirrwarr der verwendeten Text- und Musikfragmente jedoch nicht selten zu ganz eigener Poesie. Dies zeigen vor allem stillere Lieder wie «Am Fenster» oder «Am Meer». Nicht zuletzt Nigls extrem wandlungsfähigem Ton ist es zu verdanken, dass manch abgründiges Potenzial des Ausgangsstoffs an dieser Stelle noch potenziert werden kann.
Als eine Art instrumentale Fußnote zum Liederzyklus kommt Mitterers leblos für präpariertes Klavier in zwei Schichten (2008) daher, das mit geradezu eisiger Starrheit einer wie gelähmt wirkenden Musik erneut über Schuberts Winterreise zu philosophieren scheint.
Dirk Wieschollek