Martin, Frank

Intégrale des œuvres pour flûte

Verlag/Label: Musiques Suisses MGB CD 6275
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/04 , Seite 87

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 5
Booklet: 5

«Gesamtwerk für Flöte» – der Titel mag hochgestochen erscheinen für ein Repertoire, von dem einzig die bekannte Ballade von vornherein als Flötenstück mit Klavier konzipiert war. Bei der erst 2008 von Frank Martins Witwe aufgefundenen Deuxième Ballade pour Flûte et Piano ou Flûte, Orchestre à cordes, Piano et Batterie handelt es sich um zwei alternative Bearbeitungen der Ballade für Altsaxofon, Streichorchester, Klavier, Pauken und Schlagzeug von 1938. Um sie für Flöte umzuschreiben, musste der Komponist die Saxofonstimme, die fast vier Oktaven umspannt, auf drei Oktaven verengen. Die Fassung für Flöte und Klavier erklang zuerst 2009 in Haag, die Version mit Streichorchester erstmals 2010 in Turin.
Außerdem gibt es noch eine Sonata da chiesa pour flûte et orgue. Auch sie ist eine eigene Bearbeitung, nämlich der 1938 auf Anregung eines Basler Organisten entstandenen Sonata da chiesa für Viola d’amore und Orgel. Die Flöten-Version schenkte der Komponist seiner Frau 1941 zum Geburtstag.
Der Dirigent Ernest Ansermet war von der Ballade (No. 1), die Martin 1939 für den Genfer Concours International d’Exécution musicale schrieb, so begeistert, dass er den Klavierpart alsbald orchestrierte. Der Komponist soll damit nicht glücklich gewesen sein, weshalb er das Stück 1941 für Flöte, Streicher und Klavier bearbeitete. Mithin existieren also drei Versionen ein und derselben (ersten) Ballade. Zu guter Letzt arrangierte der Dirigent Victor Desarzens die Sonata da chiesa pour flûte et orgue 1958 noch für Flöte und Streichorchester. Womit sich die Zahl der Spielvorlagen für die Flöte – Martins zwei Versionen der Ballade No. 2 eingerechnet – auf sieben erhöht.
Der schweizerische Flötenvirtuose Emmanuel Pahud, vielfach preisgekrönter Soloflötist der Berliner Philharmoniker, hat sie allesamt akribisch studiert und für die Editionsreihe «Musiques Suisses» mustergültig eingespielt: eine immense künstlerische Leistung, die ihn als einen der (derzeit) Ersten seiner Zunft beglaubigt. Wobei ihm der Pianist Francesco Piemontesi und das Orchestre de la Suisse Romande unter Thierry Fischer, selbst Flötist von Rang, ebenbürtig zur Seite standen.
Bei der Sonata da chiesa handelt es sich übrigens nicht, wie der Titel vermuten ließe, um einen «Nachbau» der barocken Kirchensonate, sondern schlicht um eine (mehrteilige) Sonate für die Kirche. Wie Pahud im Gespräch mit dem Beiheft-Kommentator treffend bemerkt, sind «die sensible und farbenreiche Registrierung der Orgelpartie und die Flexibilität des Flötisten Voraussetzungen für eine gelungene Interpretation dieses Werks». Es bewegt sich überwiegend gemessenen Schrittes und enthält gebetshafte Klangmomente von berückender Schönheit. Die mehrstimmigen Rezitative der ursprünglichen Fassung verwandelte der Komponist in ein subtiles Zwiegespräch von Flöte und Orgeldiskant. Die Dudelsack-Partie der Viola übernimmt hier die Orgel.
Den Titel «Ballade» vergab Frank Martin insgesamt sechsmal, ohne den erzählenden Charakter dieser Vortragsstücke von literarischen Vorlagen abzuleiten. Als Pflichtstück für den erwähnten Genfer Wettbewerb stellte die erste Ballade in gebotener Knappheit die Finger- und Zungenfertigkeit der Bewerber auf die Probe. Die zweite hingegen, die auf die doppelt so lange Saxofon-Ballade zurückgeht, lässt sich Zeit, gibt sich lyrisch und hält den Solisten eher an der langen Leine.

Lutz Lesle