Tadday, Ulrich (Hg.)

Jörg Widmann

(= Musik-Konzepte 166)

Verlag/Label: edition text+kritik, München 2014, 99 Seiten, 22 Euro
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2015/01 , Seite 95

Dies ist ein Buch, das die kritische Auseinandersetzung mit der Musik Jörg Widmanns auf eine neue Ebene hebt. Waren die Widmann-Exegeten in den vergangenen Jahren vor allem streng werkbezogen vorgegangen, so entschieden sich die Autoren dieses Bandes in weiten Teilen für einen Zugriff, der dem labyrinthischen, werküberspannend-beziehungsreichen Denken und Schaffen Widmanns angemessener erscheint als jener.
Gleich Siegfried Mauser eröffnet mit einem originellen und poetischen, dabei auch sprachlich eindrücklichen Entwurf der Ästhetik Widmanns, dessen in nuce-Charakter enormes Potenzial birgt für weitere Studien. Die «utopische Natur» von Widmanns Musik kommt dabei ebenso zur Sprache wie ihre Suche nach einer «auratischen Dimension»; Widmanns «gesungenes Klangbewusstsein» wird ebenso umrissen wie das Konzept einer «Musik über Mu­sik». Der von Mauser erwähnte «Erfahrungshaushalt des musizierenden Klarinettisten» bleibt in seiner Bedeutung für Widmanns Komponieren indes auch diesmal noch zu we­nig berücksichtigt, mithin eine Studie, die sich einer Zusammenschau von Komponist und Klarinettist widmete – auch in anderen Beiträgen des Bandes nur angedeutet etwa in der Betonung der «korporalen Subtexte» von Widmanns Musik, der Bedeutung des Atems und des Atmens für sie –, vorerst weiterhin ein vielversprechendes Desiderat.
Einen methodisch anderen Weg als Mauser schlägt Barbara Zuber ein. Indem sie den kapitalen Doppelchor der Juden im fünften Bild der Oper Babylon (dem nach seiner Streichung bei der Münchner Uraufführung nun endlich, zumindest in verba, die verdiente Aufmerksamkeit zukommt) als eine faszinierend subtile, vielschichtige Überschreibung und Um­kodierung der «Antiphon» aus dem Orchesterwerk Messe entschlüsselt, gelangt Zuber zu einigen markanten Schlussfolgerungen für Widmanns Poetik im Ganzen, die sich als eine stringent durchdachte «Poetik musikalischer Intertextualitäten» und der «gestörten wie verstörenden Tonalität» zu erkennen gibt.
Als ein Glücksfall darf der Beitrag von Isabel Mundry gelten. Hier äußert sich erstmals prononciert eine Komponisten-Kollegin zu Widmanns Musik. Mundrys ‹Künstlerblick› (Schumann) interessiert im emphatischen Sinn die Struktur jener Kompositionen, denen Widmann den Titel Labyrinth verliehen hat. Und gerade weil Mundry dabei auch die Hörerfahrung miteinbezieht in ihre tiefenscharfe Durchleuchtung der Partituren, ist ihre These, Widmanns Labyrinth-Musik thematisiere den Verlust formaler Orientierung, überzeugend: «Die Musik hält sich in einer Schwebe zwischen Irritation und Überraschung.»
Dahingegen erscheinen die Beiträge von Janina Klassen und Stefan Drees etwas blass. Der Band wird abgeschlossen von einem Gespräch des Komponisten mit Meret Forster, das die Rolle des Klaviers in und für Widmanns Schaffen facettenreich ausleuchtet. Dass dieses Gespräch wie auch Mundrys Beitrag mittlerweile aktualisiert bzw. ergänzt werden müssten – im Januar vergangenen Jahres wurde Drittes Labyrinth, im Dezember das Klavierkonzert Trauermarsch uraufgeführt –, besitzt freilich ganz eigene Evidenz: Beide Texte wurden von der exorbitanten Schaffenskraft des Komponisten bereits eingeholt.

Rafael Rennicke