Karlheinz Stockhausen
Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Booklet: 5
Das (Sprach-)Bild bleibt haften, auch nach der zwölften Veröffentlichung: die Zeit kratzen, die Zeit aus dem Ruder laufen lassen für kurze Momente, die Zeit in ihrer Stringenz wenige Atemzüge lang anhalten. Das 1997 von Reinhold Friedl gegründete Ensemble überschreitet nämlich Grenzen, denkt und spielt im verstärkten und unverstärkten Zustand, wobei sich Ersteres nicht nur auf eine elektrische, sondern auch auf eine durch das Publikum, Blechbläserschüler oder Freiwillige ermöglichte Verstärkung bezieht. Bisher beschäftigte sich das Ensemble in seiner «old school»-Reihe mit Werken von John Cage, James Tenney und Alvin Lucier. Als vierter aus der alten Garde steht nun Karlheinz Stockhausen (1928-2007) im Fokus musikalisch-interpretatorischer Hinterfragungen: zeitkratzer inspizieren und interpretieren sein Werk «Aus den Sieben Tagen» eine Textkomposition für intuitive Musik (1968).
Die von Stockhausen selbst und seinem Ensemble bis 1970 häufig aufgeführte Intuitivmusik unterliegt durch seine vom Komponisten deklarierte Ausgestaltung naturgemäß einer breiten Interpretationsmöglichkeit. Stockhausens Aufführungspraxis endete mit dem Zeitpunkt, als seine Musiker wegen des intuitiven Charakters der Komposition ihren Status als Mitautoren einforderten, obwohl das Material in seinen Abfolgen vom Urheber mit präzisen Spielanweisungen vorgegeben wurde. Stockhausens Spielanweisungen lassen sich mit denen der bildenden Künstlerin und Musikerin Yoko Ono vergleichen, die im selben Zeitraum, in dem Stockhausen seine Werk erarbeitete, gesammelte Handlungsanweisungen in ihrem Buch «Grapefruit» veröffentlichte: «Nimm den Lärm auf, den ein Stein beim Altern macht.»
Stockhausen verlangt von seinen Interpreten ähnlich unbestimmte Assoziationsketten, die er in penibel vorgeschriebenen Spielanweisungen skizziert. In «Nachtmusik» etwa fordert er die Spieler auf: «Spiele eine Schwingung im Rhythmus des Universums
». Zeitkratzer setzt diese Anweisung in sphärische Klänge um, die sich in einem grenzenlosen virtuellen Klangraum entfalten und fast wie eine Art des Weißen Rauschens aus der Unendlichkeit des Raums über die Instrumente der Musiker das Ohr des Hörers erreichen. Schwingungen und Rhythmus entstehen stets aus der Unmittelbarkeit des soeben erzeugten Klangs, dessen auslaufender Rest-Ton in den neu entstehenden hineingreift. Es entstehen Formen von Klängen, Geräuschen und Schallereignissen, die in ihrer Komplexität kaum noch beherrschbar erscheinen. Dennoch gelingt es dem zeitkratzer-Ensemble, den Anweisungen Stockhausens («Spiele einen Ton / mit der Gewissheit / daß Du beliebig viel Zeit und Raum hast») die nötige Klangdichte und -vielfalt einzutrichtern.
Neben «Nachtmusik» wählte das Ensemble die Stücke «Unbegrenzt», «Verbindung», «Intensität» und «Setz die Segel zur Sonne», die sie nach einer mehrtägigen Probenarbeit am 12. April 2011 live im «Kino ika» in Ljubljana (Slowenien) und anschließend auf der Musik Biennale Zagreb (Kroatien) aufführten. Die veröffentlichten Aufnahmen entstammen diesen beiden Konzerten und der Probenarbeitsphase.
Klaus Hübner