Siano, Leopoldo

Karlheinz Stockhausens letzter Kompositionszy­klus «KLANG. Die 24 Stunden des Tages»

(= Signale aus Köln, Band 19)

Verlag/Label: Der Apfel, Wien 2014, 319 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/05 , Seite 93

Der 24-teilige Zyklus KLANG ist das letzte von Karlheinz Stockhausen (1928–2007) bis auf die letzten drei Teile fertiggestellte Großprojekt. Er bestätigt die Tatsache, dass Stockhausen vor allem ein Instrumentalkomponist war: Der Zyklus bietet kleinbesetzte Kammermusik zumeist für Bläser. Mit ihm hat Stockhausen seine früh bekundete Absicht wahr gemacht, nach dem Jahr (JAHRESLAUF), den Monaten (SIRIUS und TIERKREIS) und der Woche (LICHT) auch den Tag mit seinen besonders gefärbten Stunden zu komponieren.
Die Arbeit daran trägt – das erfahren wir nun aus dieser Kölner Doktorarbeit – starke Züge einer Übereilung, denn der Komponist ahnte wohl schon Mitte 2005, dass ihm nur noch wenig Zeit auf Erden beschieden sein würde. So hat er einerseits, wie er es gewohnt war, zwar massive Vorarbeiten für die Strukturierung des gesamten Zyklus geleistet – um dann doch in vielem davon abzuweichen –, andererseits Modell-Kompositionen wie SCHÖNHEIT benutzt, um daraus auf erstaunlich simple Weise weitere Stunden abzuleiten (aus dem reinen Elektronik-Stück COSMIC PULSES die sogenannten Urantia-Stunden).
Leopoldo Siano hat fast zeitgleich mit dem dritten Band von Rudolf Frisius’ Stockhausen-Monografie über die Werkzyklen 1977–2007 sein Buch über KLANG vorgelegt. Im Gegensatz zu Frisius, dessen diesbezügliche Bemerkungen eher rhapsodisch wirken und mehr auf die Erklärungskraft von Grafiken und Partitur-Ausschnitten bauen, hat Siano sich tief hineingekniet in die Partituren, Skizzen, Briefe und alles sonstige Relevante, um die Kärrnerarbeit der Analyse so weit zu treiben, dass er am Ende auch die Schreib- und Druckfehler aufspüren konnte – und musikalische wie musikologische Interpreten nun wissen können, wie es gemacht ist. Diese Arbeit muss Gott sei Dank niemand mehr machen. Allerdings kann man dieses Buch adäquat über weite Strecken nur zusammen mit den Partituren wirklich begreifen.
Bei der Analyse, die auch durch profunde Kenntnisse des übrigen Œuvres und seiner Sekundärliteratur beeindruckt, bleibt es erfreulicherweise nicht. Ansätze zur Interpretation finden sich zuhauf, auch Kritik an der Grundentscheidung (im Gegensatz zur Woche ist die Stunde ein willkürlich festgelegtes Zeitintervall) und den eingesetzten Verfahren. Im letzten Kapitel «Der Fall Stockhausen» stellt Siano an KLANG die Frage: Werk oder Dokument? – und erprobt an diesem «anormalen» Werk die theoretischen Ergebnisse der Spätwerk-Forschung. Dabei profitiert er deutlich von dem Vorteil, post mortem schreiben zu können.
Einer kürzlichen Meldung zufolge bleiben in den Geisteswissenschaften 82 Prozent der Veröffentlichungen folgenlos, d. h. niemand zitiert etwas daraus. Dieses Schicksal wird Sianos Buch nicht erleiden müssen. Es zählt zu den notwendigen Büchern über den Meister aus Kürten.

Hermann Conen