Klassik und Kalter Krieg. Musiker in der DDR

Dokumentation von Thomas Zintl | 52 min.

Verlag/Label: Arthaus 101 664
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/01 , Seite 77

Auch die Evergreens der Politikerlügen werden abgerufen: «Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten» (Walter Ulbricht, 1961) und «Bei uns im Sozialismus gibt es weder Krise noch Arbeitslosigkeit» (Erich Honecker bei der Eröffnung des neuen Leipziger Gewandhauses, 1981). Zur Hauptsache geht es auf dieser DVD jedoch um das komplizierte Verhältnis von Musik und Politik im DDR-Sozialismus, einem System, das von Tanzveranstaltungen im «Palast der Republik» bis zur Zwölftonmusik ein breites kulturelles Angebot für die werktätigen Massen bereit hielt und zugleich auf die Menschen schießen ließ, die sich diesem Angebot entziehen wollten. Mit dis­tanziertem Blick lässt die Dokumentation einzelne Musiker und Funktionsträger vor der Kamera ihre Erinnerungen ausbreiten, um das untergegangene Gesellschaftssystem noch einmal zu vergegenwärtigen. Ein merkwürdiger Effekt tritt dabei ein: Heute, nach 23 Jahren, da dieses Gebilde namens DDR schon etwas in exotische Ferne gerückt ist, erhält die lebendige Präsenz der vielen bekannten Gesichter und Schauplätze einen beinahe irrealen Zug.
Die eng mit der Politik verwobene Musikgeschichte der DDR wird mit viel authentischem Archivmaterial nachgezeichnet. Das beginnt 1945 im zerstörten Berlin, wo die sowjetischen Kulturoffiziere sehr schnell begriffen, dass es, um die Herzen der Deutschen zu gewinnen, nicht nur Suppenküchen braucht, sondern auch behelfsmäßig organisierte Konzerte mit Sinfonik und deutschen Volksliedern; und es endet 1989 mit den Protestdemonstrationen zum 40. Jahrestag der DDR und dem Fall der Mauer. Der zeitgeschichtliche Bogen, der da geschlagen wird, ist imposant.
Der Wiederaufbau des Musiklebens, den die Russen mit aufrichtigem Respekt vor der deutschen Kultur betrieben, gehört zu den Pluspunkten der frühen Besatzungspolitik. Doch mit der Berliner Blockade und der Gründung der zwei deutschen Staaten weicht die anfänglich demonstrative Offenheit einer zunehmenden Gängelung. Der Parteisoldat Honecker fand dafür später die Formel: «Nichts wird bei uns um seiner selbst willen gemacht. Alles, was wir tun, dient dem Wohle unserer arbeitenden Menschen», und Genosse Ulbricht forderte schon früh pädagogische Anstrengungen ein: Die Kunst müsse den Werktätigen erklärt werden. Eine fürsorgliche Politik, die dem gleicht, was heute unter «social engineering» läuft. Die Leitlinien dazu formulierte im fernen Moskau das verschlagen lächelnde «Väterchen» Stalin.
Von den 1970er Jahren an lockert sich die Kontrolle der Künste etwas; in der Musik, der die kritische Brisanz von Film oder Literatur abgeht, ist nun mehr erlaubt. Man darf zwölftönig und aleatorisch komponieren, und manche Künstler können ins Ausland reisen. Sie werden als Devisenbringer geschätzt und müssen bis zu fünfzig Prozent der Honorare in Westgeld abliefern. Die Stasi begleitet die «Reisekader» unauffällig. In den 1980er Jahren, als die Deutsche Grammophon mit Karajan in Leipzig die Meistersinger produziert, kommt es schließlich auch auf institutioneller Ebene zur Kooperation mit dem Westen.
Einzelne Personen und Einrichtungen porträtiert der Film ausführlicher. Man erfährt, dass die Plattenfirma «Eterna», die aus einem Privatunternehmen von Ernst Busch hervorging, sich zum lukrativsten Kulturbetrieb der DDR entwickelte, oder dass Walter Felsenstein dank seinem «Draht» nach Moskau stets optimale Arbeitsbedingungen an der Komischen Oper vorfand. Dokumentiert wird auch der Eklat mit Erich Kleiber, der für die wieder aufgebaute Staatsoper als Chefdirigent verpflichtet wurde, aber wegen ideologischer Differenzen bald nach der Eröffnungspremiere das Handtuch warf.
Das überaus reichhaltige Material wird ergänzt und kommentiert durch hochkarätige Gesprächspartner, die für eine authentische Innensicht stehen: Männer aus der Frühzeit der DDR wie der frühere stellvertretende Kulturminister Pischner, ehemalige Parteifunktionäre und Leute aus der Kulturwirtschaft sowie Größen des DDR-Musiklebens wie Kurt Masur, Peter Schreier und Siegfried Matthus. Existenzielle Probleme und Fälle von menschlich schwer zu bewältigenden Situationen zwischen Kunst und Stasi werden nicht verschwiegen.
Was stört, ist der papierne, allwissende Kommentar aus dem Off. Auch auf die nichtssagenden Sätze von Altbundeskanzler Schmidt über die politische Instrumentalisierung von Musik hätte man verzichten können. Das alles wird jedoch beiseite gewischt durch den bewegenden Schluss, bei dem der Auftritt des Gefangenenchors in der Dresdner Fidelio-Inszenierung von 1989 mit den realen Freiheitsdemonstrationen von 1989 zusammengeschnitten wird. Es ist zugleich der große Auftritt der Regisseurin Christine Mielitz, die die Proben und Aufführungen in der brisanten politischen Situation damals miterlebt hat. In ihrem Kommentar vor der Kamera lässt sie die Emotionen des historischen Moments noch einmal mit großer Intensität fühlbar werden.

Max Nyffeler