Kontinent Rihm
Wolfgang Rihm: Cantus Firmus / Ricercare / Chiffre II Silence to be beaten / Séraphin-Sphäre | John Dowland: Lachrimae verae | Anton Webern: Sechs Stücke für Orchester op. 6 | Karlheinz Stockhausen: Kreuzspiel
Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 5
«Kontinent Rihm»: so war eine umfangreiche Veranstaltungsfolge im Rahmen der Salzburger Festspiele 2010 betitelt, die unter dem Interimsintendanten Markus Hinterhäuser der neuen Musik besonderes programmatisches Gewicht gab. In der Tat scheint der Anspruch, Rihms Musik als einen ganzen «Kontinent» zu apostrophieren, gar nicht so übertrieben, überblickt man den äußeren Umfang seines Schaffens seit den 1970er Jahren und das weite Feld an Gattungen, das er dabei beackerte.
Stücke aus dem dritten und dem siebten der damaligen Konzerte, die den «Kontinent Rihm» durchquerten, sind auf der vorliegenden CD dokumentiert, interpretiert vom Klangforum Wien unter der Leitung von Emilio Pomàrico und Sylvain Cambreling. Sie zeigen, dass Rihms musikalische Landschaften nicht isoliert liegen, sondern Brücken zu Nachbarkontinenten aufweisen und vor allem auch mit der musikalischen Tradition vernetzt sind.
Im Zeichen der Trauer stehen die ersten Werke dieser Einspielung. Sowohl seinen Cantus firmus wie auch sein Ricercare formulierte Rihm 1990 als «Versuche», «Musik in memoriam Luigi Nonos» zu gestalten, des eben verstorbenen Lehrers und Freundes. Zwischen die zersplitterten Gesten dieser beiden Gedächtnis-Kompositionen stellt die CD die mild fließenden Lachrimae verae John Dowlands und rekurriert auch in den später folgenden Orchesterstücken op. 6 Anton Weberns auf das Thema des Todes: Das bestürzend sich aufreckende Schlagzeuggewitter von Weberns «Marcia funebre» ragt aus einer ansonsten meist leise und zart formulierten Musik heraus, die in der Interpretation des Klangforum Wien geradezu Sinnlichkeit verströmt.
Ein weiterer Komponist der jüngeren Vergangenheit, welcher Wolfgang Rihm als Lehrer beeinflusste, ist in die Werkfolge aufgenommen: Karlheinz Stockhausen mit seinem Kreuzspiel von 1951, das seinen Formverlauf wie in einer Labor-Anordnung aus gegenläufigen Lagenwechseln punktueller Tonmaterialien entwickelt. Den «Kontinent Rihm» betreten neuerlich die beiden letzten eingespielten Werke: zunächst Silence to be beaten aus dem verzweigten Chiffre-Zyklus, eine Komposition aus «Klängen, in die Schweigen hineinbricht (oder aus ihnen herausragt)». Zwischen aggressiver Attacke und lauerndem Innehalten lässt das Klangforum Wien Rihms Partitur wechseln, die inhaltliche Beziehungen zu Kafkas alptraumhafter Erzählung In der Strafkolonie aufweist.
Auch bei Seraphin-Sphäre handelt es sich um den Bestandteil einer der für Rihm so typischen Werkfolgen, die sich «in progress» an einem Grundeinfall abarbeiten. Die Idee des chinesischen Schattentheaters, welches der königliche Unterhalter Séraphin 1781 in Frankreich einführte, steht gedanklich im Hintergrund einer Musik, deren hochdifferenziertes Klanggeflecht wie vegetativ wuchert und, auf den Spuren von Artaud und Baudelaire, rauschhaft halluzinatorische Wirkung entfaltet.
Gerhard Dietel